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Widerstand «Eventitis» – leidet die Lebensqualität in den Schweizer Städten?
Daniel Späti
14.4.2019
Können Events das Leben in Städten wie Zürich nachhaltig beschädigen? Sollte man Grossveranstaltungen mehr Regeln auferlegen? Und wie viel Lärm ist der Bevölkerung in den Innenstädten zuzumuten? Ein Buch geht diesen Fragen nach.
Der englische Ausdruck «Event» für Ereignis, Veranstaltung, Geschehnis, Vorkommnis, Vorfall erlebte in den letzten Jahren eine erstaunliche Karriere und Popularisierung im deutschsprachigen Raum.
Ob Kindergeburtstag, Kulturveranstaltung, Quartierfest oder Sportanlass: Events sind ein fester Bestandteil unseres Alltags geworden. Sie werden professionell geplant, mittels ausgeklügelter Dramaturgie gestaltet und vermitteln ein Gefühl von Exklusivität.
Der Begriff «Eventisierung» bezeichnet zum einen die Verspassung von immer mehr Bereichen unseres sozialen Lebens mit einer bestimmten Art kultureller Erlebnisangebote, zum anderen das Machen konkreter Events.
Aber was macht die Eventisierung konkret mit einer Stadt wie Zürich? Das über 400 Seiten dicke Buch «Eventisierung der Stadt», herausgegeben von Gabriela Muri, Daniel Späti, Philipp Klaus und Francis Müller, geht dieser Frage nach.
«Bluewin» publiziert exklusiv das leicht gekürzte Kapitel «Konfliktfelder im öffentlichen Raum» – geschrieben von Daniel Späti:
Konfliktfelder im öffentlichen Raum
Zürich ist eine kleine Stadt mit einer unbestritten erstaunlichen Dichte an kulturellen und kommerziellen Veranstaltungen. Die Kapazitäten für Events sind der Größe entsprechend begrenzt, insbesondere unter der Berücksichtigung, dass der Großteil der Veranstaltungen im lukrativen Zentrum der Stadt stattfinden soll. Eine Mehrheit der befragten Expertinnen und Experten dieser Studie befindet, dass tendenziell ein Limit der Anzahl an Events in Zürich erreicht ist, oder beobachtet, dass dies (aufgrund ihrer persönlichen Wahrnehmung) die Stimmung in der Stadt spiegelt.
Nicht nur bei den Bewohnerinnen und Bewohnern, sondern auch bei den Behörden ist ein gewisser Überdruss gegenüber Events festzustellen. Das für Bewilligungen verantwortliche Polizeidepartement sieht sich ständig mit Interessenskonflikten konfrontiert, seien es Anwohnerinnen und Anwohner, die sich durch den Lärm und Abfall gestört fühlen, oder Geschäftstreibende, die eine Beeinträchtigung des Umsatzes befürchten.
Alexandra Heeb, Delegierte Quartiersicherheit des Sicherheitsdepartments Zürich, nimmt eine Übersättigung bei Stadtangestellten wahr, die im öffentlichen Raum arbeiten und von den Events direkt betroffen sind, wie zum Beispiel Polizistinnen und Polizisten oder Mitarbeitende der Stadtreinigung. Viele Probleme, die aus dem Nachtleben resultieren, setzen die im Stadtraum tätigen Dienstabteilungen zunehmend unter Druck. So treffen jeweils am Montagmorgen Beschwerden ein über Dreckdeponien, heruntergetrampelte Beete oder andere Probleme, die es zu lösen gilt.
Die Arbeit hinter den Kulissen sei oft eine undankbare, die von der Bevölkerung kaum wahrgenommen wird: „Das ist vielen Leuten gar nicht bewusst. Das ist eine schwierige Arbeit und die muss gemacht werden. Alle erwarten, dass sie gemacht ist.“ (Interview Alexandra Heeb, 18. Mai 2015)
Aufgrund der zunehmenden Konflikte versucht die Stadt Zürich, der Eventisierung eher Einhalt zu gebieten. Stadtrat Richard Wolff umschreibt die Lage und aktuelle Haltung wie folgt: „In der Innenstadt – das ist ja schon länger so – gibt es wachsenden Widerstand. Jedes Wochenende eine Veranstaltung, und meist ist es am Limmatquai oder in der Altstadt und immer dieser Lärm, von Fasnacht bis zur Street Parade. Da – so glaube ich – müssen wir als Stadtregierung bremsen und nicht mehr ausdehnen. Wir sind sehr zurückhaltend mit neuen Veranstaltungen bzw. wir sind froh um jede Veranstaltung, die es nicht gibt.“
Gemäß Richard Wolff kann die Regulierung der Stadt Zürich diese Entwicklung jedoch nicht aufhalten, sondern höchstens entschleunigen: „Ich glaube, dass man von Behördenseite her vorsichtiger geworden ist und bremst. Das heißt aber nicht, dass die Menge an Events nicht mehr zunimmt, aber vielleicht hat sich die Zunahme verlangsamt.“
24-Stunden-Gesellschaft und Interessenskonflikte
Die Eventkultur sorgt also für unterschiedliche Spannungsfelder und Interessenskonflikte zwischen den verschiedenen Beteiligten und Betroffenen innerhalb der Stadt (Behörden, Veranstalter, Bewohnerinnen, Teilnehmer). Die Behörden sind bemüht, eine attraktive und lebendige Veranstaltungskultur zu ermöglichen und abzuwickeln. Dabei müssen sie die verschiedenen Interessen der Stadt und ihrer Bewohner abwägen, also unterschiedliche, sich teilweise widersprechende Bedürfnisse und Ansprüche berücksichtigen, und laufen somit auch Gefahr zu einer Überregulierung.
Die Veranstalterinnen und Veranstalter haben ein Interesse an einem gut funktionierenden Umfeld und einer Infrastruktur seitens der Stadt, tendieren zu einer geringen Regulierung bei möglichst hohen Erträgen und müssen gleichzeitig dafür sorgen, dass ihre Angebote in einem harten Geschäftsumfeld attraktiv sind. Teilnehmend wiederum suchen an Events sozialen Austausch und sammeln Erlebnisse, um sich selbst das Streben nach einem glücklichen Leben und Status zu erfüllen. Dabei möchten sie tendenziell wenige Verpflichtungen eingehen und je nach Stand oder Alter mit sehr unterschiedlichen Ressourcen zurechtkommen.
Bei den Debatten dreht es sich immer wieder um die gleichen Themen wie Lärm, Gewalt, Drogen, Sicherheit oder Abfall, wobei Großevents, stark frequentierte Plätze und Veranstaltungsorte oder permanent bespielte Zonen wie das Langstrassenquartier mehr im Brennpunkt stehen als kleinere und vereinzelte Events. Kurz zusammengefasst sagt David Weber, Wirtschaftsförderung Stadt Zürich: „Alle wollen an Events gehen, aber man will die Events nicht dort haben, wo man wohnt.“ (Interview David Weber, 6. Juli 2015).
Dies führte in den letzten Jahren immer wieder zu Interventionen der Anwohner, 2015 zum Beispiel zu der „Petition Langstrasse“, in der 115 Anwohner den Stadtrat auffordern, Maßnahmen gegen den überbordenden Partybetrieb zu ergreifen, welcher in den letzten Jahren deutlich zugenommen habe, und unter anderem ein Bewilligungsstopp für Bars in Hinterhöfen gefordert wird. Darauf erfolgte wiederum sehr schnell eine Gegenpetition, lanciert durch das Magazin Kult unter dem Titel „Langstrasse bleibt Langstrasse!“, welche innerhalb weniger Tage 2800 Unterschriften sammeln konnte und damit auch den Partygängern, Gewerblern und Gastronomen Gehör verschaffen wollte.
Die Stadt reagierte darauf mit einer Vermittlungsinitiative und organisierte einen runden Tisch zwischen den Parteien, zu welchem alle Anwohner und Betriebe eingeladen wurden. Im Laufe der drei Durchführungen wurden folgende Maßnahmen beschlossen (gute-nachtbarschaft.ch 2016, Maßnahmenkatalog nicht mehr online):
• „Einbindung der 24-Stunden-Shops: Die Betreiber von 24-h-Shops sollen in die Pflicht genommen werden, auch in ihrem Aussenbereich für Sauberkeit zu sorgen. Die meisten Betreiber im fraglichen Perimeter haben sich dazu bereit erklärt einen entsprechenden Verhaltenskodex zu unterschreiben.
• Kampagne: Eine Kampagne soll alle Besucherinnen und Besucher auf die Empfindlichkeit des Langstrassenviertels aufmerksam machen. Sie wurde von engagierten Club- und Barbetreibern und vom Nachtstadtrat ausgearbeitet und ist unter dem Slogan ‚Nachtleben und lassen‘ sichtbar.
• Mobile Toiletten: Während der Fussball-Europameisterschaft 2016 wird an der Dienerstrasse, Höhe Lambada, eine erste mobile Pissoir-Station aufgestellt – zunächst als Versuch. Der Versuch soll zeigen, ob dadurch die Hinterhöfe und Hauswände entlastet werden.
• Schutz der Innenhöfe: Die Innenhöfe werden als besonders empfindliche Zone definiert. Um sie vor Lärm zu schützen, werden auf die jeweilige Situation zugeschnittene Lösungen etabliert.
• Problembetriebe: Die Stadtpolizei setzt ihr Augenmerk verstärkt auf die Probleme ‚Lärm‘ und ‚Abfall‘, sogenannte Problembetriebe werden häufiger kontrolliert.
• Beschwerdetelefon für Anwohner: Anwohnerinnen können sich mit Beschwerden auch direkt an die Club- und Barbetreiber wenden.
• Polizeipräsenz: Seit Mai 2016 ist die Stadtpolizei an den Wochenend-Nächten rund um die Piazza Cella mit zusätzlichen Patrouillen unterwegs. Auch sip züri (Sicherheit Intervention Prävention Zürich) ist dort stärker präsent.“
Während für langjährige Bewohnerinnen und Bewohner durchaus Verständnis gezeigt wird und auch die Partyveranstalterinnen und -veranstalter sich um Rücksichtnahme bemühen, geraten nicht nur an der Langstrasse gerade neue (und eher wohlhabende) Bewohner ins Visier, die sich über die Umstände beschweren, in welche sie sich freiwillig begeben haben. Sie wurden durch den Gentrifizierungsprozess angezogen, in der Stadt zu wohnen, angelockt vom Versprechen, am Puls der Zeit zu wohnen, aber „... kaum sind sie dort, sagen sie: ,Dieser Puls ist viel zu laut!‘ (Interview Richard Wolff, 29. Mai 2015)
Gerade hier stellt sich die Frage, wie groß der Einfluss von Einzelpersonen und insbesondere von Neuzugezogenen sein darf, die sich gestört fühlen, und wie diese gegenüber den Interessen bestehender Betriebe und ihrer Kunden gewichtet werden.
Am Beispiel des Clubs Härterei auf dem Maag-Areal kann dies exemplarisch nachvollzogen werden. Der Club musste sich dem Druck der Bewohnerinnen neuerstellter Wohnungen auf dem Areal beugen, umziehen und hohe Investitionen tätigen, um das Weiterführen des Betriebs zu gewährleisten. Für Unmut unter den Club-Betreibern sorgte zudem ein Entscheid des Baurekursgerichts im Jahr 2016, welcher neu ein Baugesuch für die Verlängerung der Betriebszeiten nach Mitternacht und für die Einrichtung von Wartezonen im Freien vorsieht (und entsprechend von Bewohnern auch Rekurs gegen einen Entscheid eingelegt werden kann).
Immer wieder werden deshalb seitens von Veranstaltern wohnfreie Gebiete wie beispielsweise das Geroldareal gewünscht, in denen grosszügigere Lärmvorschriften gelten sollen, was wiederum zu einer Entlastung der am stärksten betroffenen Zonen wie des Langstrassenquartiers führen würde.
Zunehmender Nutzungsdruck auf den öffentlichen Raum
Die Nutzung des öffentlichen Raums ist in den letzten Jahren vielfältiger und intensiver geworden. Der Nutzungsdruck zeigt sich insbesondere im Stadtzentrum, in Zürich vor allem im Kreis 1. Veranstalter wollen mit ihren Veranstaltungen ins Zentrum, um eine möglichst hohe Erreichbarkeit zu garantieren. Dort sind die Veranstaltungen am leichtesten zugänglich, ziehen folglich am meisten Publikum an (nicht nur aus der Stadt, auch aus der Umgebung) und sind vermutlich auch weniger werbeaufwändig als in der Peripherie.
Dies ist sicherlich nicht immer im Interesse der Anwohnenden, aber auch nicht zwingend der Geschäfte. So hat sich zum Beispiel die City-Vereinigung nach kurz aufeinanderfolgenden politischen Demonstrationen beschwert, dass ihr Weihnachtsgeschäft dadurch beeinträchtigt wird. Sie hat infrage gestellt, wieso die Demonstrationen immer der gleichen Route folgen müssen.
Beim Polizeivorsteher trifft dies auf ein gewisses Verständnis: „Die City-Vereinigung hat auch ein gewisses Recht. Einerseits haben wir die Meinungsfreiheit oder Demonstrationsfreiheit, wir können ja nicht einfach sagen: Ihr dürft nicht. Wir können aber sagen, wo sie das Recht haben und wo nicht. Und dann müssen wir auch dafür sorgen, dass es gerecht verteilt ist.“ (Interview Richard Wolff, 29. Mai 2015)
Dies gerecht zu beurteilen, ist aber komplex: Für welche Anliegen darf zu welchem Zeitpunkt in der Innenstadt demonstriert werden? Für welche Anliegen muss eine andere Route genügen? Insgesamt stellen mehrere der interviewten Exponentinnen und Exponenten der Stadt die Frage, ob man die Veranstaltungen nicht besser auf die zur Verfügung stehenden öffentlichen Räume verteilen könnte. Dafür wären eine vorausschauende Planung und eine langfristige Eventstrategie hilfreich. Die entscheidende Herausforderung dabei ist eine (mehrheitlich) überzeugende Argumentation zu finden und eine entsprechend transparente Bewilligungspraxis zu definieren, da es viele Grauzonen gibt.
Sechseläutenplatz als Schlüsselraum der Eventisierung
Der Secheläutenplatz ist im Moment das Beispiel in Zürich, an dem die Fragen der unterschiedlichen Vorstellungen und Nutzungsinteressen eines öffentlichen Platzes am deutlichsten aufeinandertreffen. Nach seinem Umbau von 2009– 2014 ist der Sechseläutenplatz (benannt nach dem jährlich stattfindenden Frühlingsfest) heute gemäß Wikipedia mit 16.000 m2 der zweitgrößte innerstädtische Platz der Schweiz und gleichzeitig einer der größten in Europa.
Das Nutzungskonzept des Stadtrats sieht vor, dass der Platz an 180 Tagen pro Jahr genutzt werden kann und während der „Sommermonate“, von März bis Oktober, an 120 Tagen frei bleiben soll. Dabei gibt es einige langjährige und traditionelle Nutzungen wie das Sechseläuten selbst (seit 1902), das Züri Fäscht (seit 1951), der Zirkus Knie (seit ca. 100 Jahren) oder auch die Street Parade (seit ca. 1992), weiter auch das Zurich Film Festival, wechselweise kleinere Zirkusse, die Oper für alle und seit jüngstem auch das sogenannte Wienachtsdorf.
Mit der Neugestaltung und der zunehmenden Nutzungskonkurrenz mehren sich jedoch auch die Stimmen, die sich gegen zahlreiche Events auf dem Sechseläutenplatz wenden. Eine Kommentatorin hat den Online-Artikel „Es ist Zeit für die reine Leere“ damit kommentiert, dass der Zirkus gut irgendwo sonst auf einer Wiese gastieren könnte und nicht mitten in der Stadt seine Zelte aufschlagen muss, unter diskutablen Platzverhältnissen. Die Street Parade ist von kürzerer Dauer als das Zurich Film Festival, beansprucht jedoch mehr Raum durch mehr Besucher und verursacht wesentlich mehr Lärm.
Durch die beschriebenen Events wird der Sechseläutenplatz zu einem Schlüsselraum für die Präsentation von Events. Mit Kulturveranstaltungen wie den Festspielen, Sechseläuten und Züri Fäscht ist das Raumgefüge des Sechseläutenplatzes eine Schlüssellokalität in der Produktion von Events. Der neue Platz beeinflusst zusammen mit den Events das symbolische Kapital der Stadt Zürich in der Konkurrenz der Städte: Zürich hat nun einen „richtigen“ Stadtplatz.
Die Neugestaltung des Sechseläutenplatzes vereint die Strategie, die besten Events mit städtebaulich-architektonischen Superlativen zu verbinden. Zürich hat nun im Schweizer Vergleich den zweitgrößten Stadtplatz und darauf die mit 38 Metern längste Bank. Die stadtpolitische Strategie der Eventförderung – „Events mit internationaler Ausstrahlung und hochklassige Veranstaltungen sind in Zürich willkommen und werden vermehrt als Imageträger für den Standort genutzt“ (Stadtrat von Zürich, 2007: Kapitel 12) – verbindet sich mit dem städtebaulichen Anspruch, eine Weltbühne zu schaffen.
Damit werden jedoch bestimmte Bevölkerungsgruppen und alternative, kurzfristige Events wie Jugendpartys ausgeschlossen. Die Events, die den Sechseläutenplatz nutzen dürfen, können entweder als Traditionsanlässe oder als Mega-Events bezeichnet werden, die die Positionierung der Stadt im Hinblick auf internationale Indexe fördert. Der Nutzungsdruck auf den Sechseläutenplatz scheint insgesamt sehr hoch. Richard Wolff konstatiert dazu:
„Alle wollen auf den Sechseläutenplatz, der Druck auf diesen Platz ist immens, und es stellt sich die Frage, wie man das regulieren soll. Jede Regulierung stößt auf Widerstand, da nie alle Interessen gleich berücksichtigt werden können. Das ist schwierig, und meiner Ansicht nach müsste man schauen, dass man in einer Stadt wie Zürich, in der es immer mehr Events gibt, mit einer Dezentralisierung beginnen muss und darauf achtet, dass Events auch in anderen Stadtteilen stattfinden und nicht alles auf das Zentrum konzentriert ist.“ (Interview Richard Wolff, 29. Mai 2015)
Initiative «Freier Sechseläutenplatz»
Jüngst wurde nun die städtische Initiative „Freier Sechseläutenplatz“ lanciert, welche die jährliche Nutzungsdauer auf 60 Tage einschränken möchte (Anm. d. Verf.: Die Initiative wurde 2018 abgelehnt). Die Initianten schreiben auf ihrer Website: „Die Initiative ‚Freier Sechseläutenplatz‘ will, dass der Sechseläutenplatz als alltäglicher Aufenthalts- und Begegnungsort für alle während mindestens 300 Tagen im Jahr vollständig frei zugänglich ist. Der Stadtrat möchte den Platz nur während 180 Tagen, also im Schnitt jeden zweiten Tag freihalten. Dies ist unserer Meinung nach viel zu wenig. Die Initiative gewährleistet weiterhin eine massvolle Nutzung für besondere Anlässe und Veranstaltungen während bis zu zwei Monaten. [...]
„Welche Veranstaltungen auf dem Platz stattfinden sollen oder nicht, das entscheidet der Stadtrat. Die Initiative lässt hier bewusst einen möglichst grossen Freiraum, im Vertrauen darauf, dass die Vergabe durch den Stadtrat mit Blick auf dieWünsche und Bedürfnisse der Menschen erfolgen wird.“
Der Vorschlag der Initiative würde also bedeuten, dass einige der bisherigen Veranstaltungen nicht mehr dort stattfinden könnten und stellt die Stadt vor das Problem zu entscheiden, bei welcher Veranstaltung diese Abstriche gemacht werden müssten. Dies auch vor dem Hintergrund, dass es bei den betroffenen Veranstaltungen durchaus zu massiven Ertragseinbrüchen führen könnte.
So wird in der Neuen Zürcher Zeitung der Direktor Fredy Knie jun. paraphrasiert, der sagt, dass der temporäre Wegzug während des Umbaus des Sechseläutenplatzes sehr problematisch war: „Während des mehrjährigen Exils auf der Landiwiese seien die Besucherzahlen geschrumpft, und viele Zirkusfreunde hätten ihm gesagt, dass sie erst wieder in die Vorstellungen kämen, wenn der Zirkus zurück am alten Ort sei. Der Mangel an Parkplätzen bei der Landiwiese sowie die schlechte Anbindung an den öffentlichen Verkehr mögen laut Knie auch Gründe dafür gewesen sein.“ Der Standort Zürich ist für den Zirkus Knie mit jährlich rund 100.000 Besuchenden der mit Abstand wichtigste Standort in der Schweiz.
Des Weiteren beschreibt Richard Wolff eine parallel dazu geführte Debatte, welche die Komplexität der Thematikweiter verdeutlicht: „Gleichzeitig gibt es – teilweise von den gleichen Leuten – auch die Forderung einer Öffnung des öffentlichen Raumes für Straßenmusiker und Straßenkünstler nachdem Prinzip: Der Zirkus Knie muss weg, dafür sollen Straßenmusiker unbeschränkt den Raum bespielen können. Ist das mehrheitsfähig? Und wenn nachher an vier Ecken des Sechseläutenplatzes verschiedene Musik gespielt wird, die Leute aber eigentlich nur auf dem Platz sitzen und keine Musik hören wollen? Ich weiß es nicht (schmunzelt), aber genau das sind die Fragen, mit denen wir konfrontiert sind.“
Qualität statt Quantität?
Für die zukünftige Entwicklung der Event-/Veranstaltungskultur stellen sich Fragen, welche sich, im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten, vielleicht weniger nach quantitativen, sondern zunehmend an qualitativen Maßstäben auszurichten haben. Die entsprechende Auseinandersetzung müsste auf einer Diskussion und Haltung basieren, wie die Lebensqualität einer Stadt diesbezüglich zu bewerten und zu gestalten (oder eben nicht zu gestalten) ist, nicht nur seitens der Behörden, sondern auch aller weiteren Protagonisten wie Veranstaltern, Teilnehmenden oder Betroffenen.
Während in den 80er und frühen 90er Jahren eher ein grundlegendes Manko an Kultur- und Unterhaltungsangeboten vermutet werden kann (natürlich wiederum an unseren heutigen Maßstäben gemessen bzw. eben in seinem aktuellen Ausmaß auch als ein typisches Bedürfnis/Merkmal der heutigen Gesellschaft gesehen werden kann), findet die Logik der Diskussion heute nicht mehr entlang der Quantität des Veranstaltungsangebots statt, sondern werden zunehmend Aspekte von Qualität wichtig, sei dies in Bezug auf die Qualität der Events selbst oder in Bezug auf die Lebensqualität in der Stadt generell.
Plinio Bachmann von der Kulturabteilung der Stadt Zürich versucht auf einer abstrakten Ebene zu erklären, wie Events in die Stadt eingreifen und ihre Quantität zum Problem werden könnte. Er ist dabei überzeugt, dass es ein kritisches Maß an Eingriffen in das städtische Alltagsleben gibt: „... meine Vorstellung von Stadt ist, dass es sich um einen Raum von einer relativ hohen Dichte handelt, in dem es aufgrund des bunten Gemischs von Leuten und Bewohnern und verschiedenen Ansichten und verschiedenen Wegen und verschiedenen Zielen zu ständigen Kollisionen kommt … zu ständig überraschenden Begegnungen, die sich aber in so einen ständigen Strom von Stadtleben irgendwie einfügen. Und das hat etwas Ungesteuertes, das aber wahrscheinlich ständig ähnliche Geräuschpegel (lacht) produziert, und in das greifen Events ein, mit gerichteten, gesteuerten, kanalisierten Ereignissen, und wenn das zu häufig passiert, ist das Stadtleben als Normalfall in seiner täglichen Intensität und spannenden Art beschädigt.“ (Interview Plinio Bachmann, 15. Mai 2015)
Bachmann stellt Vermutungen an, was es bedeutet, wenn die permanente organisierte Außeralltäglichkeit zum Normalfall wird, wie diese ins Stadtleben eingreifen könnte, damit weniger Spontanes geschehen kann und es kaum Ruhepausen mehr gibt. Gerade Leerräume seien jedoch sehr wichtig, wie auch Anna Schindler, Direktorin der Stadtentwicklung, meint: „Jeder zentrale Platz, der ja eigentlich auch da sein soll für die Leute, der braucht auch so und so viele Monate oder Tage, an denen einfach nichts ist oder geschieht. Beim Sechseläutenplatz war es extrem und es hat alle überrascht. Dieser Platz ist eigentlich am coolsten, wenn gar nichts stattfindet.“ (Interview Anna Schindler, 19. Mai 2015)
Auch Martin Sturzenegger von Zürich Tourismus sieht Tendenzen der Übersättigung, betont aber gleichzeitig auch eine damit einhergehende Problematik: „Ich sage nicht, dass es gleich weitergehen muss mit immer mehr und mehr, aber dass diese Dynamik und Offenheit grundsätzlich bleibt. Und hier ist ein Einbruch festzustellen bei Events und generell bei Entwicklungen in Zürich.“ (Interview Martin Sturzenegger, 4. Mai 2015).
Er stellt also eine Sättigung fest (Quantität) und hofft gleichzeitig, dass Dynamik und Offenheit bleiben (Qualität). Dies ist gleichzeitig die Grundsatzfrage, welcher sich Regulierung und Förderung von Veranstaltungen stellen und somit auch Stellung nehmen muss.
Es handelt sich hier um einen originalen, leicht gekürzten Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «Bluewin»-Regeln.
Bibliografie: Eventisierung der Stadt, Gabriela Muri, Daniel Späti, Philipp Klaus und Francis Müller (Herausgeber), 408 Seiten, ISBN 978-3-86859-493-5, ca. 40 Fr.