Kolumne Corona-Krise – Ich will sofort Lärm!

Von Caroline Fink

30.3.2020

Am ersten Tag der rigorosen Anti-Pandemie-Massnahmen steigen noch eine Handvoll Leute per Tourenski zur Bergstation Maschgenkamm im Skigebiet Flumserberg.
Am ersten Tag der rigorosen Anti-Pandemie-Massnahmen steigen noch eine Handvoll Leute per Tourenski zur Bergstation Maschgenkamm im Skigebiet Flumserberg.
Bild: Caroline Fink

Seit Jahren suche ich bewusst die stillsten Winkel der Welt auf. Denn ich mag sie, die Stille. Doch jetzt, wo es in der Schweiz mit einem Mal still ist wie nie zuvor, möchte ich nur eines: mehr Lärm!

Es war jener Tag, als in der Schweiz erstmals im Radio offizielle Ansagen des Bundesrats ertönten. Meine Freundin Katrin und ich standen bei der Talstation Tannenboden im geschlossenen Skigebiet Flumserberg und klebten die Steigfelle auf unsere Tourenski – wir planten eine letzte kleine Flucht vor dem Alltag mit Corona.

Auf menschenleeren Skipisten stiegen wir bergwärts, vorbei an Tannen und Masten, an still hängenden Sesseln und geschlossenen Bergrestaurants.

Die Sonne schien, als käme bald der Sommer, und Vögel zwitscherten, als gäbe es keine Sorgen auf der Welt. Zwei Stunden lang waren wir unterwegs, dann standen wir auf dem Maschgenkamm, der zweithöchsten Bergstation des Gebiets.

Mit uns rastete dort ein halbes Dutzend anderer Skitourengeher, verstreut auf einer Schneefläche vor der Seilbahn. Die meisten waren still oder grüssten aus der Distanz, ein Hund apportierte Stöcklein, und mich beschlich das Gefühl, dass dies die letzte Bergtour für eine lange Zeit sein würde.

Es war still. Seltsam still.

Um den Moment zu geniessen, ging ich allein zu Fuss ein Stück weiter bis zum einsamen Aussichtspunkt des 2’073 Meter hohen Ziger. Wo ich dann stand und um mich blickte. Auf den Spitzmeilen, den Wissmeilen, den Ringelspitz in der Ferne.

Sie alle ragten auf wie eh und je und leuchteten fahl im Mittagslicht. Doch etwas war anders: Es war still. Seltsam still.

Nach einer Weile sind wir fast allein und die Stille im Gebiet wird geisterhaft.
Nach einer Weile sind wir fast allein und die Stille im Gebiet wird geisterhaft.
Bild: Caroline Fink

Und mit einem Mal wurde mir klar, weshalb: Die Flugzeuge standen am Boden. Überall in Europa und auch in Zürich-Kloten, wo mein Bruder sich im Lotsenturm gerade fragte, wo er bloss die ganzen Flieger parken sollte.

Der Himmel über mir war hellblau mit ein paar Wolkebauschen. Sonst nichts. Ich lauschte abermals. Was ich mir immer gewünscht hatte, war wahr geworden: Die Alpen wie die grossen Wildnis – still, archaisch, schön.

Bloss ein Problem gab es: mich selbst.

Mein Kopf fühlte sich an, als steckte er in einem Nebel. Ich war so verwirrt ob allem, was gerade geschah, dass ich mich nicht einmal hinsetzte. Stattdessen blieb ich stehen, blickte um mich und merkte: Das akustische Vakuum machte mir Angst.

Klingt, tönt und lärmt!

Mir, die seit Jahren die Stille immer wieder aufgesucht hatte – in Yukon, in Finnland, in Island und den hintersten Winkeln der Alpen. Mir, die jüngst den Bildband Silence publiziert und Fine-Art-Projekte zum Thema Stille organisiert hatte.

Und mit einem Mal wusste ich: Die Stille schätze ich nur, solange noch irgendwo Lärm ist auf der Welt. So wie ich den Sommer nur mag, weil es auch einen Winter gibt. Oder Zweisamkeit geniesse, weil ich auch allein sein darf.

Richtung Ringelspitz vom Aussichtsgipfel Ziger aus – so richtig geniessen will man dieser Tage die Stille nicht.
Richtung Ringelspitz vom Aussichtsgipfel Ziger aus – so richtig geniessen will man dieser Tage die Stille nicht.
Bild: Caroline Fink

Deshalb danke ich an dieser Stelle euch allen für den alltäglichen Lärm. Ich danke euch Bergbahnen, dass ihr am Skilift Hudigäggeler laufen lässt, wenn ich in Ruhe Skifahren will. Ich danke euch Mitreisenden, dass ihr auf der Zugfahrt plaudert, wenn ich im selben Abteil am Arbeiten bin.

Ich danke euch Nachbarn, dass ihr abends im Innenhof Feste feiert, wenn ich schlafen möchte. Ja, selbst dem Kirchturm danke ich heute, der mich mit seinem Geläut seit Jahr und Tag aus dem Schlaf reisst. Denn jüngst ist es seine Glocke, die jeden Morgen für fünf Minuten in die gespenstische Stille Zürichs läutet. Und mir den Start in den Tag etwas leichter macht.

In dem Sinn: danke für alles, was aktuell noch klingt, tönt und lärmt!

Zur Autorin: Caroline Fink ist Fotografin, Autorin und Filmemacherin. Selbst Bergsteigerin mit einem Flair für Reisen abseits üblicher Pfade, greift sie in ihren Arbeiten Themen auf, die ihr während Streifzügen in den Alpen, den Bergen der Welt und auf Reisen begegnen. Denn von einem ist sie überzeugt: Nur was einen selbst bewegt, hat die Kraft, andere zu inspirieren.

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