Forza Ambrì! Stille Nacht in der Leventina – «Die alte Welt, die es nicht mehr gibt»

Von Kilian Gasser, Quinto

8.12.2020

Nicht umsonst gilt der HC Ambrì-Piotta als Unikat in der Schweizer Eishockeylandschaft: Stadion Valascia.
Nicht umsonst gilt der HC Ambrì-Piotta als Unikat in der Schweizer Eishockeylandschaft: Stadion Valascia.
Bild: Keystone/Christian Beutler

Das Stadion Valascia geht seinem Ende entgegen. Damit bahnt sich unter den Corona-Beschränkungen ein weiterer, wehmütiger Meilenstein in der Geschichte des HC Ambrì-Piotta an. Ein Augenschein im Leventiner Eishockeytempel.

Wie so viele im benachbarten Kanton Uri, hat auch mich die blauweisse Leidenschaft schon früh im Leben gepackt. Und bis heute nicht losgelassen. Seit 40 Jahren pilgere ich in der Herbst- und Winterzeit fast wöchentlich in die «Kathedrale der Leventina» zu den Spielen des HC Ambrì-Piotta.

Noch nie in 40 Jahren habe ich aber ein Spiel vor nur 30 Fans in der «Valascia» erlebt, wie in dieser kalten Vollmondnacht Ende November 2020. Im Zuge der Corona-Schutzmassnahmen sind im Tessin seit Kurzem nur noch 30 Personen an öffentlichen Veranstaltungen zugelassen.

Der HC Ambrì-Piotta, soziokulturelle Institution in der oberen Leventina, lost die Glücklichen nun Spiel für Spiel unter den Saisonkartenbesitzern aus.

Ambrì-Piotta bleibt heute ein Geisterdorf

Zum Autor: Kilian Gasser

Der Urner Kilian Gasser, 50, ist seit dem Primarschulalter vom sehr hartnäckigen (aber glücklicherweise harmlosen) «Ambrì-Virus» infiziert. Nach 15 Jahren in der Stadt Zürich, kehrte er vor zehn Jahren wieder in seine alte Heimat Uri zurück. Der Selbstständigerwerbende arbeitet für diverse Medien und Organisationen, und hat immer wieder mal Stimmungsberichte rund um den HC Ambrì-Piotta verfasst, oder daran mitgewirkt.

Schon die Anfahrt mutet heute fast gespenstisch an. Auf der Hauptstrasse zwischen Airolo und Piotta, wo sich sonst an Spieltagen die Matchbesucher Wagen an Wagen durch die engen Kurven schlängeln, bin ich heute der einzige weit und breit.

Angekommen auf dem Parkplatz auf der ehemaligen Flugpiste, strömen wir normalerweise vor Spielbeginn in Massen zum Stadion hinüber.

Heute Abend bleibt Ambrì-Piotta trotz des Cupspiels gegen Fribourg ein Geisterdorf. Im Ristorante Monte Pettine, dem sonst stets rappelvollen Treffpunkt der Fans, ist es dunkel. Nur das Stadion Valascia leuchtet hell. Und die alte Musikanlage des Stadions dröhnt umso lauter in die Nacht hinaus.

Tristezza im Hexenkessel

Vor der Halle, wo wir uns im Normalfall zu Hundertschaften bei Marroni und Vino Rosso auf das Spiel einstimmen, warten nur ein paar Unentwegte. Die Verpflegungsstände sind heute nur Bretterwände. Lediglich der Shop mit den Fanartikeln hat trotz des staatlich verordneten, kümmerlichen Zuschaueraufmarschs geöffnet. Den traditionellen «Panettone Biancoblù», den man zur Weihnachtszeit gern aus Ambrì nach Hause trägt, gönne ich mir deshalb heute Abend erst recht.

Emotionen auf der Spielerbank im Stadion Valascia: HC Ambrì-Piott.
Emotionen auf der Spielerbank im Stadion Valascia: HC Ambrì-Piott.
Bild: HC Ambrì-Piotta

Drinnen im Stadion wärmen sich die beiden Mannschaften für das Spiel auf. Auf den Rängen: kein Mensch. In der Mitte der Curva Sud, wo wir uns jeweils schon vor Spielbeginn die Seele aus dem Leib singen, steht einsam ein geschmückter Weihnachtsbaum. Die heissblütigen Mitglieder der Fangruppierung «Gioventù Biancoblù» haben ihn als Ersatz für ihre Präsenz am Spiel aufgestellt.

Zusammen mit einem Spruchband in Gedenken an die soeben verstorbenen Sportler Doris de Agostini und Diego Maradona, zwei grosse Champions «aus einer Welt, die es nicht mehr gibt». Auch im Ausnahmezustand vergisst man Legenden in der Leventina nicht: Arrivederci, Doris e Diego.

Die Szenerie mutet an, als gedenke man neben den zwei Sportlegenden auch gerade der eigenen Vergangenheit. Der Vergangenheit dieses legendären Stadions, das in spätestens zwei Jahren abgerissen wird. Es steht direkt am steilen Hang in der Gefahrenzone, was die dringende Sanierung verunmöglicht.

Auf der anderen Talseite, gleich neben der Autobahn, entsteht deshalb gerade die «Nuova Valascia», ein moderner Sportkomplex für 7000 Zuschauer, erbaut von Stararchitekt Mario Botta.

Der Torwart leidet

In den engen Gängen der Valascia treffe ich auf Benjamin Conz, den derzeit verletzten Torhüter der ersten Mannschaft. Als Spieler hofft er, dass der alte Geist im neuen Stadion wieder auferstehen wird. Der ehemalige Ajoie-Junior und langjährige National-League-Torhüter hat schon jedes Stadion in den obersten Schweizer Spielklassen erlebt.

Spruchband in Gedenken an die kürzlich verstorbenen Sportler Doris de Agostini und Diego Maradona, zwei grosse Champions «aus einer Welt, die es nicht mehr gibt».
Spruchband in Gedenken an die kürzlich verstorbenen Sportler Doris de Agostini und Diego Maradona, zwei grosse Champions «aus einer Welt, die es nicht mehr gibt».
Bild: Kilian Gasser

Noch nie aber einen Hockeytempel, in dem das Publikum so leidenschaftlich, die Stimmung so einzigartig ist wie in der altehrwürdigen Valascia. Stimulierend und einzigartig sei diese Ambiance, besonders in schwierigen Spielsituationen – meint der zurückhaltende Benjamin Conz.

Man vermisse das Publikum sehr – auch wenn ein Geisterspiel vielleicht manchmal weniger Ablenkung von aussen bringe. Die Emotionen des Publikums zu spüren, das sei jedoch die Essenz. «Deshalb machen wir das alles.»

Die Emotionen des Trainers reichen nicht

Im Moment sind es fast nur Emotionen von den Spielerbänken, sowie von der Bande zurückprallende Pucks, die im Stadion zu hören sind. Die dreissig zugelassenen Zuschauer sitzen – vorschriftskonform verteilt auf der Haupttribüne – unter dicken Wolldecken.

Nur als sich der Ambrì-Piotta-Trainer Luca Cereda nach einem Tor der Gäste in der ganzen Halle hörbar enerviert, folgen einzelne Zwischenrufe aus dem Publikum. «Arbitro merda!» Auch mir entfährt in diesem Moment ein wütendes «Schiri – heieiei».

Drinnen im Stadion wärmen sich die beiden Mannschaften für das Spiel auf. Auf den Rängen: kein Mensch.
Drinnen im Stadion wärmen sich die beiden Mannschaften für das Spiel auf. Auf den Rängen: kein Mensch.
Bild: Kilian Gasser

Die Mannschaft vermag dies aber heute nicht aufzurütteln. Sie scheidet emotionslos gegen ein abgeklärtes Fribourg aus dem Cup-Wettbewerb aus. Die Siegeshymne «La Montanara», die auch aus unseren dreissig Kehlen schön geklungen hätte, wird uns an diesem Abend verwehrt.

Mit meinem «Panettone Biancoblù» in der Hand laufe ich nach dem Spiel mit einem Freund und Leidensgenossen etwas traurig durch das menschenleere Dorf. Ich ahne in diesem Moment, dass die neue Welt des HC Ambrì-Piotta vielleicht nie mehr so wird wie «die alte Welt, die es nicht mehr gibt» – so wie es auf dem Spruchband in der Curva Sud geschrieben stand.

Was sicher bleibt, ist der Mythos

Vielleicht erleben wir diese speziellen Momente der alten Valascia nie wieder, wie damals im Oktober 2010, als nach einer Heimniederlage gegen den EV Zug ein Koffer aufs Spielfeld flog. Als unmissverständliche Botschaft an Benoît Laporte, den damaligen Trainer. Einige Tage später folgte die Entlassung, und der unbeliebte und erfolglose Coach musste seine Koffer packen.

Den traditionellen «Panettone Biancoblù», den man zur Weihnachtszeit gerne aus Ambrì nach Hause trägt, gönnt sich der Autor an diesem tristen Novemberabend erst recht.
Den traditionellen «Panettone Biancoblù», den man zur Weihnachtszeit gerne aus Ambrì nach Hause trägt, gönnt sich der Autor an diesem tristen Novemberabend erst recht.
Bild: Kilian Gasser

Die Chance, dass dieses heissblütige Publikum die Tribünen der altehrwürdigen Valascia nach einem entscheidenden Tor noch einmal erzittern lassen darf, werden aufgrund der Pandemie immer geringer. Auch dieses dumpfe und leidenschaftliche «Ambrì, Ambrì, Ambrì», das jeweils bei heissen Spielszenen durch die kalte Halle rollt, werden wir im alten Stadion wohl nicht mehr erleben.

Am Ende ist es immer wieder dieses Leiden, diese Melancholie. Sie ist der Lebensnerv des HC Ambrì-Piotta – dem ewigen Underdog aus der Leventina.

Der Stille Abschied von der alten Valascia wird den Mythos weiter nähren. Bis auch die neuen, modernen Wände in der «Nuova Valascia» wieder beben, und die Siegeshymne «La Montanara» aus Tausenden Kehlen an der gegenüberliegenden Talseite neu ertönen wird.


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