Lebenslust Reisen geht durch den Magen – Nachtmärkte von Taiwan

Andreas Drouve, dpa

14.7.2019

Bunte Lichter. Gut gelaunte Menschen. Reger Handel. Eine Heerschar an Gerüchen, die in der Nase kitzeln. Das sind Taiwans Nachtmärkte – und jeder davon hat seinen eigenen, speziellen Charme.

Überall Garküchen unter Dampf. Der Geruch von vergorenem Tofu hebt den Besucher fast aus den Schuhen. Für Linderung sorgt ein paar Meter weiter ein Stand mit Ingwertee. 

Das ist der Raohe Street Night Market in Taiwans Hauptstadt Taipeh. Menschenmassen bewegen sich zwischen taghell erleuchteten Ständen mit Fettgebackenem, frittierten Riesengarnelen, Shirts, Sneakers und Selfie-Sticks hin und her.

An einem davon empfängt die Sozialarbeiterin Yu-Hsin Chen, 28. Sie engagiert sich für Obdachlose. Wer bei ihr eine Portion Curry-Huhn oder Tempura ordert, unterstützt ein Projekt für Menschen ohne Wohnsitz. Das überrascht, denn Taiwan drängt sich mit Eindrücken höchster Moderne und Sauberkeit auf, nicht mit Armut.

Keine Insekten, aber Schlange

«Für uns bedeuten Nachtmärkte soziales Leben, Unterhaltung, herumschlendern, nach neuen Trends Ausschau halten, essen und trinken», erklärt Touristenführerin Michelle Chiu. Und beugt falschen Erwartungen hinsichtlich kulinarischer Exotik vor: «Insekten, also auch Heuschrecken, bereiten wir hier keine zu.»

Schlangen gibt es aber. Bekannt dafür ist in Taipei der Huaxi Street Tourist Night Market, der den alten Beinamen Snake Alley (Schlangenallee) trägt, obwohl im Vergleich zu einst lediglich ein Abglanz erhalten ist.

Der Selbstversuch startet mit einer Reihe gut gekühlter Drinks. «Kobrablut mit Honig», klärt Miss Elsa auf, die freundliche Kellnerin, und deutet auf ein Wasserglas mit einem roten Trunk. Ihre Gebrauchsanweisung lautet, das Gefäss zur Hälfte zu leeren und dann jedes Mal mit den Tropfen aufzufüllen, die sie daneben gestellt hat: fünf Schnapsgläschen in Farbnuancen zwischen bräunlich und klar.

Besuch beim Teufelsmasseur

Dass Miss Elsa leidlich Englisch spricht, erweist sich als Vorteil. Welche Elixiere genau man schluckt und welches Paar an gummiartigen, haselnussgrossen, bernsteinfarbenen Ovalen separat auf einem Tellerchen zum Verzehr bereit liegt, bleibt ein Geheimnis. Diese nicht zerbeissen, nur schlucken, sagt Miss Elsa mit Zeichensprache und setzt strahlend hinzu: «Ist gut für die Gesundheit.»

Lecker ist anders, doch was nach der kulinarischen Stärkung kommt, ist purer Genuss für Leib und Seele. Denn in der Schlangenallee reiht sich Massagestudio an Massagestudio. Doch das hat nichts mit dem Ruf des vormaligen Rotlichtviertels zu tun.

Einer, der die Klaviatur geübter Griffe beherrscht und eher das Aussehen eines Hochschuldozenten hat, ist Mister Joseph. Er bohrt seine mit Latexhandschuhen überzogenen Finger tief ins Fleisch. Und versteht sich darauf, sein bis ans Schmerzlimit betriebenes Handwerk in tiefste Entspannungs- und Wohlgefühle zu verwandeln.

Shrimpsfischen ohne Gnade

Halb Taipei ist auf den Nachtmärkten unterwegs, sofern das Wetter mitspielt. 14 Adressen in unterschiedlichsten Distrikten listet das Fremdenverkehrsamt auf, meist bequem mit der schnellen und effizienten Metro zu erreichen.

Das gilt auch für den Shilin Night Market um die Markthalle Shilin, wo ein Stand zum Shrimpsfischen einlädt. Was im Eimer landet, ist dem Tode geweiht. Der Standmeister spiesst die aus Kleinbassins zutage geförderten Garnelen bei lebendigem Leib auf, dann kommen sie auf den Grill dahinter, wo sie ihr Leben auszucken. In der Gastronomie kennen Taiwanesen, so friedliebend und besonnen sie sonst sein mögen, keine Gnade. Sie wollen es frisch haben, ganz frisch.

Manche Gäste der Garküchen sitzen im Jackett auf Plastikstühlchen, manche tragen Flipflops. Andere schlingen ihr Essen im Gehen hinunter. «Nachtmärkte sind gewöhnlich in der Nähe von Tempeln entstanden, weil sich dort ohnehin die Leute konzentrierten», sagt Stadtführerin Chiu. Das Geschehen dauert von Sonnenuntergang bis etwa Mitternacht. Nirgendwo herrscht Gedränge, das Miteinander ist von Freundlichkeit und gegenseitigem Respekt geprägt. Selbst von Händlerseite geht es absolut unaufdringlich zu. Man fühlt sich rundum sicher.

Jenseits von Taipeh

Kaum eine europäische Langnase scheint sich hingegen auf den Garden Night Market in Tainan zu verirren, einer Grossstadt im Süden. Hier herrscht Jahrmarktstimmung, ein gutes Ziel für Familien mit Kindern. Der Nachwuchs angelt Plastikgetier aus Kunstteichen oder flippert an Kleinstautomaten, wie viele Erwachsene auch. Was fehlt, sind Fahrgeschäfte jedweder Art. Dafür übt man sich im Ringewerfen auf Flaschen und Pfeilewerfen auf Luftballons.

Stark frequentiert ist der Ruifeng Night Market in der noch südlicheren Stadt Kaohsiung. Er ist als riesiges Rechteck angeordnet, das an eine vielbefahrene Strasse stösst, auf der niemand hupt und rüpelt.

Hier könnte man sich mühelos die ganzen Ferien lang durch die Errungenschaften der Küche kosten. Es riecht süsssauer, fischig, fleischig, pilzig, zimtig. Würste und Hühnerfüsse glitzern glasig, Pfannkuchen mit grünen Zwiebeln finden reissenden Absatz. Verführerisch sind Konditorauslagen und Eiscremes.

Schlüssel zur Mentalität

Nachtmärkte allein rechtfertigen keine Reise nach Taiwan. Dazu gibt es zu viele spannende Ziele für tagsüber, die auf der dicht besiedelten Insel allerdings weit verstreut liegen.

Auf den Märkten stösst man aber in authentische Gefilde vor, in denen man die Taiwanesen besser kennen und verstehen lernt. Ihr Lebensgefühl, ihren Gemeinschaftssinn, ihre Fröhlichkeit, ihre Genuss- und Konsumfreude. Nachtmärkte sind auf Taiwan auch Schlüssel zur Mentalität.

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