Finger in der Wunde Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück inspiziert das Elend der SPD

Georg Ismar, dpa

6.3.2018

Ein streitbarer Genosse macht sich Sorgen um seine Partei: Der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück geht hart mit der deutschen Sozialdemokratie ins Gericht.
Ein streitbarer Genosse macht sich Sorgen um seine Partei: Der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück geht hart mit der deutschen Sozialdemokratie ins Gericht.
Keystone

In der SPD in Deutschland lieben sie ja die Einwürfe früherer Spitzengenossen von der Seitenlinie. Nun hat Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ein neues Buch geschrieben: «Das Elend der Sozialdemokratie».

Schon der Anfang sagt alles, der Mann hat ja ein Faible für britischen Humor. «Prolog oder Nekrolog?», fragt Peer Steinbrück am Anfang einer neuen Streitschrift zur existenziellen Krise der SPD. Ein Nekrolog ist ein Nachruf auf einen Verstorbenen. Er sieht seine SPD, die nun wieder den Gang in eine grosse Koalition als Juniorpartner Angela Merkels (CDU) wagt, auf der Intensivstation.

Der Ex-Kanzlerkandidat schreibt gleich im ersten Satz, dass er natürlich weiss, dass er angreifbar ist mit seiner schonungslosen Analyse. «Ja, ich weiss: Der Verlierer von 2013 sollte sich mit einer Analyse der Wahlniederlage der SPD vom September 2017 zurückhalten.»
Steinbrücks Buch «Das Elend der Sozialdemokratie - Anmerkungen eines Genossen», seit Dienstag im Handel, erscheint zu einer Zeit, wo die Partei turbulente Wochen hinter sich hat, inklusive des Abschieds des SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten von 2017, Martin Schulz.

Provokante Streitschrift

Steinbrück hält die erneute grosse Koalition allein schon wegen der Krisen in Europa für unausweichlich. In Anbetracht des suboptimalen eigenen Wahlkampfes von 2013 und der Tatsache, dass auch er noch nie eine Wahl gewonnen hat, kommt es aber durchaus selbstgerecht daher, wie sich Steinbrück an der aktuellen SPD abarbeitet. Aber der Befund eines der klügsten (und streitbarsten) SPD-Köpfe ist lesenswert.

Es geht dem Hanseaten um die grossen, langen Linien seiner Partei - aber es ist auch ein Einwurf von der Seitenlinie des Spielfeldes. Es ist bisher nicht bekannt, dass sich der für seine lukrativen Nebenverdienste immer wieder in der Kritik stehende Steinbrück aktiv in den geplanten SPD-Erneuerungsprozess einbringen will. Und es ist eine provokante Streitschrift, die zumindest für ihn persönlich aus verkaufstechnischer Sicht sicher nicht zum falschesten Zeitpunkt kommt. Aber das Buchmanuskript wurde bereits Mitte Dezember abgeschlossen.

Einigung in Berlin: Grosse Koalition auf dem Weg

Der Mittelweg bringe zwangsläufig den Tod

Er kritisiert darin eine diffuse Programmatik, einen auf 45 Leute aufgeblähten Vorstand («halbe Kompaniestärke»), «Personalbesetzungen nach Regional-, Flügel- und Geschlechterproporz». Das Wort des Jahres der SPD laute «Erneuerung» - aber statt wirklich alte Pfade zu verlassen und schonungslose Analyse zu betreiben, setze man auf «politische Sandkastenspiele.» Wenn einer wie Olaf Scholz mal den Finger in die Wunde lege, werde er wie beim Bundesparteitag im Dezember bei der Wahl der Vizes mit 59,2 Prozent böse abgestraft.

Hinweise auf Gründe für den Sinkflug der SPD seien an «einer Wand aus Selbsthypnose» abgeprallt. So gebe es beim Thema Flüchtlinge die Pole «Refugees welcome» und «Grenzen dicht». Gleiches beim Thema Europa - die einen wollen mehr Geld überweisen, die anderen nicht weiter Zahlmeister sein. Die SPD versuche das mit Beschlüssen zu umschiffen, die das Profil bis zur Unkenntlichkeit verwässerten. «In Gefahr und grösster Not bringt der Mittelweg den Tod», kritisiert Steinbrück.

Mit seinem Titel greift der frühere Bundesfinanzminister und nordrhein-westfälische Ministerpräsident die Überschrift eines Essays des liberalen Vordenkers Ralf Dahrendorf von 1987 auf. Auch damals war die Sozialdemokratie europaweit auf dem Abstieg - Dahrendorf konstatierte, die Sozialdemokraten seien immer die Treiber der politischen und sozialen Entwicklung gewesen. Sie hätten den Kapitalismus in Europa gezähmt, dann aber ihre Kraft verloren.

Sind Zeter und Mordio unabwendbar?

Nach einem Zwischenhoch zur Jahrtausendwende unter Rot-Grün als Gegenpol zum Neoliberalismus sieht es aus Sicht Steinbrücks heute noch finsterer aus. Die SPD habe in ihrer ursprünglichen Mission den Kapitalismus mit sozialer Marktwirtschaft und einem leistungsstarken Wohlfahrtsstaat eingehegt. Sogar die Union hat sich ja unter Merkel sozialdemokratisiert - und mit der SPD einen Mindestlohn eingeführt.

Die SPD sei dann mehrheitsfähig gewesen, wenn sie drei Profile zugleich habe anbieten können: soziale Kompetenz, wirtschaftlichen Sachverstand und Plattform für zentrale gesellschaftliche Debatten. «Sie darf sich deshalb nicht länger darauf beschränken, eine Art Dienstleistungsagentur für die Alltagssorgen der Bürger zu sein.» Es gehe um die Stärkung des «wunderbaren Kontinents Europa», die Zähmung des Kapitalismus 2.0 und ein Einhegen des Rechtspopulismus der AfD.

Steinbrück, der mit seinem Ruf nach Beinfreiheit im Wahlkampf 2013 unter die Räder des Parteikarrens geriet, ahnt, dass der SPD harte Debatten bevorstehen. «Ihre organisatorische, kommunikative und personelle Runderneuerung wird absehbar zu Zeter und Mordio führen».

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