Sturm aufs Kapitol Polizei öffnet den Chaoten die Tore und macht Selfies mit ihnen

Von Philipp Dahm

7.1.2021

Allein auf weiter Flur: Ein einsamer Polizist sieht sich am 6. Januar mehreren Trump-Anhängern im Kapitol gegenüber.
Allein auf weiter Flur: Ein einsamer Polizist sieht sich am 6. Januar mehreren Trump-Anhängern im Kapitol gegenüber.
KEYSTONE

Krawalle in der Nacht auf Mittwoch, Extremisten pilgern nach Washington und Donald Trump spricht, nachdem er den Senat verloren hat: Den Sturm aufs Kapitol hätte man kommen sehen können, wenn man gewollt hätte.

Als die Menge auf das Kapitol zukommt, wird sie bereits erwartet. Die Polizei von Washington ist da, die US Park Police und Behörden wie das Federal Bureau of Prisons sind vor Ort – und natürlich die Nationalgardisten. 5000 von ihnen schützen das politische Herz der USA.

Nur ist das so leider nicht am 6. Januar geschehen, als fanatische Anhänger von Donald Trump aufs Kapitol zumarschiert sind, sondern am 1. Juni 2020. Die Demonstrierenden waren keine weissen Wutbürger, sondern gehörten zur Black-Lives-Matter-Bewegung. Und im Gegensatz zu 2021 kamen die Protestierenden damals nicht mal ansatzweise in die Nähe des Kapitols.

Der britische «Guardian» fasst es so zusammen: «Der Kontrast zwischen der Reaktion der Polizei auf die Erstürmung des Kapitols am Mittwoch und der Unterdrückung friedlicher Proteste im Sommer ist nicht einfach nur gross – er ist schwarz und weiss.»

Wer die Aufnahmen der Sicherheitsvorkehrungen von damals mit den Bildern von gestern vergleicht, kann nur zustimmen. Während Trumps Anhänger anscheinend mühelos die Fenster des Kapitols einschlagen und in das Parlament eindringen konnten, wurden friedliche Demonstrierende im Juni von der Polizei anscheinend mühelos von einer nahe gelegenen Kirche entfernt, bei der der Präsident ein Foto von sich machen liess.

Was für ein Unterschied: Polizisten gehen mit aller Härte am 1. Juni 2020 gegen Bürger vor, die wegen der Ermordung von George Floyd friedlich in der Nähe des Kapitols demonstrieren. Weil Donald Trump bei einer Kirche ein Foto machen lassen will, werden die Demonstrierenden – sagen wir – äusserst effektiv vertrieben.

Wie wenig gleichen sich nun die Bilder. Der gestrige Mob wurde nicht von einer Phalanx schwer bewaffneter Polizisten erwartet. Kein Armee-Helikopter kreiste über der Menge. Im Gegenteil: Die wenigen Ordnungshüter vor Ort öffneten der Chaostruppe zum Teil sogar Tür und Tor und liessen die Wütbürger durch Barrikaden gehen.

Ein Polizist wurde gar dabei gefilmt, wie er sich mit den Eindringlingen auf ein Selfie einlässt. Das schmerzt. «Was, wenn sie schwarz gewesen wären?», zitiert «Forbes» verstörte Twitter-User, die ungläubig sind angesichts solcher Szenen.

Die Polizei von Washington rechtfertigte das eigene Vorgehen damit, dass ihre Beamten deutlich in der Unterzahl gewesen sind. «Die Polizei war nicht auf die schiere Grösse des Protests vorbereitet», erklärte ein früherer FBI-Mann dem «Wall Street Journal».

1900 Beamte hatte die Polizei beim Kapitol im Einsatz, von denen natürlich nicht alle den Chaoten freies Geleit gaben. Anderswo wurden sie von der Tatsache überrascht, dass die Störer selbst mit Pfefferspray gegen die Polizei vorgingen.

Andere Behörden hätten zwar zu langsam reagiert, sagt die Quelle des «Wall Street Journal». Aber «es bestand die Möglichkeit, dass es eine grosse Demonstration wird, die diese Barrikaden nicht durchbricht, bis sie ins Kapitol eingedrungen ist». Nicht zuletzt habe das kleinere Aufgebot deeskalierend wirken sollen, heisst es auch aus Polizeikreisen.

Sehenden Auges ins Chaos

Es stellt sich unter dem Strich also die Frage: Konnten die Behörden mit so etwas rechnen?

Nachdem es in der Nacht auf Mittwoch bereits Zusammenstösse zwischen der Polizei und Trump-Anhängern gab? Nachdem Extremisten wie der Führer der rechten Proud Boys die Bühne betreten hatte, Hass schürte und verhaftet wurde? Nachdem Donald Trump immer wieder mit seinen Behauptungen von Wahlbetrug die Stimmung aufgeheizt hatte? Und dann kurz vor Eröffnung der Sitzung im Kapitol beim «Save America March» auftreten sollte – nachdem seine Partei gerade spektakulär die Mehrheit im Senat verloren hatte?

Wer das tragische Szenario in Washington nicht vorausgesehen hat, hat die Augen verschlossen.

Das Sicherheitskonzept war eine Farce, was sich nicht zuletzt bei der Nationalgarde gezeigt hat. Die Nationalgarde wird eigentlich vom Gouverneur eines Bundesstaates zu Hilfe gerufen, doch in der Hauptstadt ist das anders: Dort obliegt es dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, die Hilfstruppen anzufordern.

Am Mittwoch stand die Nationalgarde bereit, doch statt 5000 Männern und Frauen waren nur 350 vor Ort. Donald Trump war es nicht, der diese 350 zum Kapitol bestellte. Sein Vize Mike Pence hat das übernommen, nachdem nichts passiert ist, und die Truppe aufgestockt.

Erst als die Nationalgarde eintraf und eine Ausgangssperre verhängt wurde, beruhigte sich die Lage in Washington wieder. Das zeigt, dass es am Mittwoch niemals hätte so weit kommen dürfen.

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