Die SPD im Dilemma Genosse Angst und das Phantom Gabriel: Die SPD im Dilemma

Georg Ismar und Benjamin Haller, dpa

19.2.2018

Rund 463'000 SPD-Mitglieder stimmen in Deutschland nun über eine erneute grosse Koalition ab: Die Stimmung an der Basis bei den Treffen mit der SPD-Spitze ist eher dafür - aber da ist noch ein Gespenst namens Gabriel. Und die Chefin in spe trifft auf eine neue Konkurrentin.

Andrea Nahles hat ein kniffliges Problem zu lösen. Im roten Mantel steht sie vor der Hamburger Messe, berichtet von positiven Rückmeldungen der SPD-Basis, bei der ersten Debatte drinnen über den mit CDU und CSU ausgehandelten Koalitionsvertrag.

Dann wird sie gefragt: «Wie stehen Sie nun zu Sigmar Gabriel?» Die designierte SPD-Chefin wird die Zukunft des bisherigen Aussenministers mit entscheiden. Obwohl sie nach ihrer persönlichen Meinung gefragt wurde, sagt sie: «Das war heute kein Thema hier, definitiv nicht».

Dann springt ihr der kommissarische SPD-Chef Olaf Scholz bei, der neben ihr steht. Ungefragt ergreift er das Wort, lenkt geschickt ab: «Ich habe insgesamt erlebt, dass wir hier sachlich diskutiert haben, die Mitglieder interessieren sich für den Koalitionsvertrag. Sie wissen, es geht jetzt um eine Entscheidung, die jedes der über 400'000 Mitglieder der SPD jetzt zu treffen hat über die Frage, wie es weitergeht mit Deutschland und Europa.» Thema erledigt, weg sind sie.

Die Mitglieder entscheiden aber auch über die Zukunft von Nahles und Scholz, der Finanzminister und Vizekanzler werden will in der GroKo, aber das noch nicht sagt. Beide wären bei einem Nein erledigt. Und beide würden gerne bei einem Ja ohne Gabriel weitermachen, heisst es intern. Das Spitzenduo traut ihm nicht über den Weg, nach diversen Konflikten mit ihm und Alleingängen in dessen Zeit als Parteichef.

Sie wissen, er wäre kaum zu disziplinieren, ein Spaltpilz im SPD-Teil der Regierung. Zugleich ist er der beliebteste SPD-Politiker derzeit. Der Ruf nach einem Verbleib erschallt nach der Vermittlung bei der Freilassung des «Welt»-Journalisten Deniz Yücel in der Türkei von allen Seiten. Auch wenn der Reiseausflug Gabriels am Freitag von der Münchner Sicherheitskonferenz nach Berlin, um im Newsroom der Springer-Zeitung die Yücel-Freilassung zu feiern, Fragen aufwirft. Nahles hatte gemahnt, auf Kampagnen in eigener Sache zu verzichten.

Nahles erzeugt kaum Aufbruchstimmung

Die Szene mit Scholz und Nahles in Hamburg zeigt, wie knifflig das Problem ist - einen der Aktivposten im Kabinett, der international sich rasch Respekt erarbeitet hat, abservieren? Die Lage bei der SPD ist so schon fragil, zumal Nahles kaum Aufbruchstimmung erzeugt, die 47-Jährige ist halt auch schon seit 20 Jahren an vorderster Front in der Partei dabei. Zumindest zeigen die Treffen mit der Basis in Hamburg, Hannover und Kamen: Das Mitgliedervotum könnte gut ausgehen.

In Kamen sagt NRW-Chef Mike Groschek, die Debatten würden die Partei beleben. «Ich habe sehr stark gefordert, dass endlich wieder Leben in die Bude der alten Tante SPD gehört. (...) Manche tanzen auf den Bänken und Tischen, aber besser so, als wenn Grabesstille herrscht.» Anders als er ist sein Sohn gegen die GroKo - er hat eine Petition in dem SPD-Landesverband unterzeichnet, die über 400 Unterstützer hat.

An diesem Dienstag wird es ernst; rund 463'000 Mitglieder stimmen bis zum 2. März ab. Die Stimmung in Hamburg ist angespannt. Die SPD hat nach den Chaostagen, dem Rücktritt von Parteichef Martin Schulz und dessen Verzicht, Aussenminister zu werden, ein Schleudertrauma.
Wutentbrannt verlassen zwei Männer den Saal. Sie finden, dass den Kritikern der grossen Koalition kein Raum gegeben wird. «Da gehen wir lieber zum HSV.» Der Bundesligaclub hat immerhin 17 Punkte - und damit einen mehr als die SPD Prozente in der jüngsten ARD-Umfrage (16). Beide eint: Sie sind in akuter Abstiegsgefahr.

Nur Mitglieder zugelassen, keine Presse

Weniger die Inhalte, sondern der «Genosse Angst» - die Sorge vor dem totalen Absturz bei einer Neuwahl - könnte der grösste Geburtshelfer dieser schon vor dem Start fragilen Koalition werden. An den Tischen wird mit den SPD-Granden diskutiert, ab und an dringt Nahles' laute Stimme nach draussen. Sie kämpft bis an die Belastungsgrenze.

Es geht um Fragen wie «8000 neue Stellen, und was noch? Wie wird die Pflege besser?»; «Wie kann die SPD sich erneuern, wenn sie gleichzeitig regieren muss?» Es wird geworben für Verbesserungen bei Rente, weniger befristete Arbeitsverträge, Wohnungsbau-Milliarden und schnelleres Internet. Nur Mitglieder sind zugelassen, keine Presse.

Bei allen Veranstaltungen gibt es Mitglieder, die überzeugt werden können - aber auch Kritik, die Partei ist gespalten und wird lange brauchen, die Risse, vor allem zwischen Basis und Führung zu kitten.
Da ist zum Beispiel Golnar Sepehrnia, 41. Sie ist verärgert, weil es geheissen habe, es solle eine faire Debatte mit den Kritikern geben. «Die Dreistigkeit, mit der sich daran nicht gehalten wird, finde ich ärgerlich.» Die Veranstaltung sei «eine Werbeveranstaltung des Vorstands». Vom Herzen her sei die Mehrheit klar gegen die GroKo.

Kalte Schulter für Gegenkandidatin

Aber viele wollen lieber die Ratio walten lassen. «Nach meiner Einschätzung gibt es eine breite Mehrheit, die zu einem Ja beim Koalitionsvertrag tendiert», sagt in Hannover Niedersachsens Regierungschef Stephan Weil. Aber wie ernst meinen es Scholz und Nahles mit der Erneuerung der SPD? Nahles will bei einem Parteitag am 22. April SPD-Chefin werden - aber plötzlich ist da Simone Lange.

Die Flensburger Oberbürgermeisterin taucht persönlich in Hamburg auf, beim Reingehen überreicht sie Scholz und Nahles ihre Bewerbung um den SPD-Vorsitz gegen Nahles - lustlos nimmt Scholz die Unterlagen entgegen. Lange muss aber noch offiziell nominiert werden.

Ein Hallo, sonst nichts. Auch bei der Konferenz reden sie kein Wort mit ihr. «Mein Zugehen wurde leider nicht erwidert. Möge jeder selbst beurteilen, wie man das finden soll», sagt Lange dazu. Sie ist auch enttäuscht von der Konferenz. «Ich hatte die Erwartung, beide Seiten zu hören.» Warum habe die Führung nicht die Souveränität, auch GroKo-Gegner wie Juso-Chef Kevin Kühnert einzuladen? Und sie hätte die Veranstaltung für die Öffentlichkeit geöffnet, sagt sie. Der Koalitionsvertrag habe doch Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft.

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