«Es ist wirklich grauenhaft» Von den Kreml-Gegnern ist nach dem Nawalny-Tod «niemand sicher»

dpa/twei

29.2.2024 - 00:00

Nawalnaja nennt Putin «blutiges Monster»

Nawalnaja nennt Putin «blutiges Monster»

Die Witwe des in Haft gestorbenen russischen Kreml-Kritikers Alexej Nawalny hat vor Verhandlungen mit Präsident Wladimir Putin gewarnt und neue Ansätze im Umgang mit Moskau gefordert.

28.02.2024

Isolation, schlechtes Essen, kaum medizinische Versorgung – und immer wieder willkürliche Bestrafung. Wer als Gegner des Kremls im Gefängnis landet, muss mit extremen Bedingungen rechnen. Dass hat nicht zuletzt der Tod von Alexej Nawalny gezeigt.

dpa/twei

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  • Politische Gefangene in Russland leiden unter willkürlich verhängten Strafen, fehlender medizinischer Versorgung und sklavengleicher Zwangsarbeit.
  • Nach den undurchsichtigen Todesumständen von Kremlkritiker Alexej Nawalny befürchten viele der Hunderten von Betroffenen eine Verschlimmerung der Haftbedingungen.
  • Auch bei der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial spricht man von einem «beunruhigenden Zeichen».

Wladimir Kara-Mursa konnte nur lachen, als Wärter ihm ein Schränkchen in die ohnehin beengte Zelle stellten. Ausser einer Zahnbürste und einem Becher gebe es nichts, was er darin verstauen könne, da ihm alle persönlichen Dinge abgenommen worden seien, sagt die Ehefrau des prominenten Kremlkritikers.

Ein anderes Mal sei ihm aufgetragen worden, Bettwäsche von der gegenüberliegenden Seite des Flurs zu holen – obwohl festgelegt sei, dass er ausserhalb der Zelle stets die Hände auf dem Rücken halten müsse.

«Wie hätte er sie aufnehmen sollen? Mit den Zähnen?», fragt Jewgenija Kara-Mursa im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP. Als ihr Mann die Bettwäsche geholt habe, sei ein Wärter mit einer Kamera aufgetaucht und habe ihm vorgeworfen, gegen die Regeln verstossen zu haben. Daraufhin seien ihm von der Verwaltung der Strafkolonie weitere Disziplinarmassnahmen auferlegt worden.

Kremlkritiker Kara-Mursa wegen «Hochverrats» verurteilt

Politische Gefangene wie Wladimir Kara-Mursa werden in Russland extrem unter Druck gesetzt, physisch und psychisch. Wie stark sie gefährdet sind, ist diesen Monat am Beispiel von Alexej Nawalny, der während seiner Haft unter bisher nicht aufgeklärten Umständen ums Leben kam, deutlich geworden.

«Niemand ist im russischen Strafvollzugssystem sicher», sagt Grigori Wajpan von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, deren Ko-Vorsitzener Oleg Orlow am Dienstag wegen «wiederholter Diskreditierung» des Militärs zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, weil er die russische Invasion in die Ukraine verurteilte.

Auch Kara-Mursa wurde im vergangenen Jahr nach Kritik am russischen Angriffskrieg in der Ukraine wegen «Hochverrats» zu 25 Jahren Haft verurteilt. Es ist die bisher längste Strafe, die in Russland gegen einen Kritiker von Präsident Wladimir Putin verhängt wurde. Doch Kara-Mursa ist nicht der einzige. Laut Angaben von Memorial gibt es mindestens 680 politische Gefangene im Land.

Wladimir Kara-Mursa ist einer von hunderten politischen Gefangenen in Russland.
Wladimir Kara-Mursa ist einer von hunderten politischen Gefangenen in Russland.
BIld: IMAGO/SNA

Überfüllte Unterkünfte mit bis zu 60 Männern pro Raum

Ehemalige Insassen, Anwälte und Angehörige von Betroffenen zeichnen ein sehr düsteres Bild von den russischen Straflagern, die in ihren Grundstrukturen bis heute auf die berüchtigten Gulags aus früheren Zeiten zurückgehen. Trotz einiger Reformen «hat es noch immer mehr oder weniger das Rückgrat des Sowjetsystems», sagt Oleg Koslowski von Amnesty International.

Konstantin Kotow, ein Aktivist, der mehr als ein Jahr in der Strafkolonie Nr. 2 festgehalten wurde, berichtet von überfüllten Unterkünften mit bis zu 60 Männern pro Raum. Nicht einmal die Pandemie habe daran etwas geändert, sagt er der AP. Tagsüber hätten alle Masken tragen müssen, aber er bezweifle, dass das etwas genützt habe. «Mitunter hatten Leute hohes Fieber. Sie wurden in die Krankenstation gebracht und kamen wieder zurück – und das war es.»

Die Mahlzeiten sind einfach. Zum Frühstück habe es Haferbrei gegeben, mittags und abends Suppe, Kartoffelbrei und ein Stück Fisch oder Fleisch, sagt Kotow. Pro Woche seien jedem Häftling zwei Eier zugeteilt worden. Obst und Gemüse seien Luxuswaren gewesen, die es in den Verkaufsstellen im Gefängnis nur selten gegeben habe. «Die Rationen sind zu klein und oft ungeniessbar», beklagte Nawalny einmal. Zusätzliche Nahrung kann oft vor Ort gekauft oder von Angehörigen zugeschickt werden, aber nur eingeschränkt. Wer in Einzelhaft sitzt, kann keine Pakete erhalten.

Aktivistin von Pussy Riot: «Es ist ein System der Sklaverei»

Der Alltag der Gefangenen ist von Arbeiten und Pflichten geprägt. Der Oppositionspolitiker Andrej Piwowarow, der wegen des Leitens einer verbotenen Organisation zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, muss nach Angaben seiner Frau Tatjana Usmanowa jeden Tag mehrere Stunden lang seine Zelle putzen und dabei eine Tonaufnahme von Gefängnisregeln hören. Wärter würden ihm und den anderen Gefangenen per Überwachungskamera zuschauen und Versäumnisse bestrafen.

Insgesamt gibt es in Russland knapp 700 Haftanstalten. Bei den meisten handelt es sich um Strafkolonien mit unterschiedlichen Sicherheitsstufen. Etwa 30 bis 40 davon sind speziell für Frauen. Politische Gefangene würden meist in Einrichtungen mit besonders strengen Kontrollen gebracht, sagt die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Soja Swetowa.

Die russische Aktivistin und Mitbegründerin der Band Pussy Riot, Nadja Tolokonnikowa, verbüsste zwischen 2012 und 2013 eine 22-monatige Haftstrafe in Russland.
Die russische Aktivistin und Mitbegründerin der Band Pussy Riot, Nadja Tolokonnikowa, verbüsste zwischen 2012 und 2013 eine 22-monatige Haftstrafe in Russland.
Bild: Keystone/Ennio Leanza

Nadja Tolokonnikowa, die als Mitglied der Protest-Gruppe Pussy Riot bekannt wurde und in den Jahren 2012 und 2013 knapp 22 Monate im Gefängnis sass, wurde nach eigenen Angaben in 16 bis 18 Stunden langen Schichten zu Näharbeiten gezwungen. «Es ist ein System der Sklaverei und es ist wirklich grauenhaft», sagt sie der AP.

Bei ihrer Ankunft in der «Strafkolonie Nr. 14» habe der Gefängnisleiter sich ihr als «Stalinist» vorgestellt. Er habe ihr gesagt: «Ausserhalb dieses Lagers magst du jemand sein, eine Stimme haben, Leute, die dich unterstützen und für dich sorgen. Aber hier bist du ganz und gar in meiner Macht. Und das musst du verstehen.»

Inhaftierte bekommen oft keine medizinische Versorgung

Formal werden die russischen Gefängnisse von Kommissionen beaufsichtigt, die Inspektionen durchführen und sich für Insassen einsetzen. In den vergangenen Jahren seien die Mitglieder dieser Kommissionen aber zunehmend durch regierungstreue Leute ersetzt worden, sagt Swetowa, die von 2008 bis 2016 einem solchen Gremium angehörte. Die aktuelle Regierung nutze Haftanstalten als Mittel zur Einschüchterung und Unterdrückung.

Medizinische Versorgung finde in vielen Fällen praktisch gar nicht statt, kritisieren Aktivisten und einstige Insassen. Entsprechend leidet oft die Gesundheit der Gefangenen. Auf Kara-Mursa wurden 2015 und 2017 Giftanschläge verübt.

Er überlebte, trug aber bleibende Schäden davon. Während seiner Untersuchungshaft in Moskau wurde er teilweise noch behandelt, seit der Verlegung in eine Strafkolonie im sibirischen Omsk aber nicht mehr. «Er braucht Physiotherapie, Bewegung», sagt seine Frau. In seiner derzeitigen Zelle sei das kaum möglich.

Organisation sieht beunruhigendes Signal

Alexej Gorinow, ein ehemaliger Moskauer Lokalpolitiker, der wegen Kritik am Ukraine-Krieg zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, leidet an einer chronischen Atemwegserkrankung. Nach sechs Wochen Einzelhaft verschlechterte sich sein Zustand. Im Dezember sei der 62-Jährige zu schwach gewesen, um aufrecht auf einem Stuhl zu sitzen oder auch nur zu sprechen, beklagten Unterstützer unter Berufung auf dessen Anwalt.

Durch öffentlichen Druck sei es in den zurückliegenden Jahren gelungen, physische Gewalt in russischen Gefängnissen einzudämmen, aber mit dem Tod von Nawalny sei nun erneut eine Grenze überschritten worden, sagt Wajpan von der Organisation Memorial. Es sei ein «beunruhigendes Signal», dass es womöglich noch schlimmer werden könnte.