Nach Wahlschlappe gegen Marine Le PenHat sich Emmanuel Macron mit der Neuwahl verzockt?
Von Rachel Boßmeyer, dpa
10.6.2024 - 22:20
Macron löst Parlament auf – Le Pen «bereit zur Machtübernahme»
STORY: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron löst nach den herben Verlusten seiner Allianz bei den Europawahlen die Nationalversammlung auf und ruft Neuwahlen am 30. Juni aus. Er könne nicht so tun, als sei nichts passiert, sagte Macron am Sonntagabend. Zugleich warnte er davor, dass der Aufstieg von Nationalisten eine Gefahr für Frankreich und Europa sei. «Ich habe Ihre Botschaft und Ihre Bedenken gehört und werde sie nicht unbeantwortet lassen», sagte er an die Wähler gerichtet. Zuvor war bekanntgeworden, dass die rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen Prognosen zufolge die Europawahl in Frankreich klar gewonnen hat. Sie kommt auf 32 Prozent der Stimmen, wie mehrere Meinungsforschungsinstitute voraussagten. 2019 hatte die Partei noch 23,3 Prozent der Stimmen geholt. Die Partei sammelte damit mehr als doppelt so viele Stimmen ein wie Macrons Renaissance-Bündnis, das auf rund 15 Prozent zurückfiel. Le Pen begrüsste Macrons Ankündigung. Man sei bereit, die Macht in Frankreich zu übernehmen, falls RN das Vertrauen der Wähler gewinne.
09.06.2024
Nach der Schlappe bei der Europawahl zieht Macron drastische Konsequenzen. Mit einer Neuwahl des französichen Parlaments will er die Rechtsnationalen bremsen. Es ist ein gewagter Poker.
DPA, Von Rachel Boßmeyer, dpa
10.06.2024, 22:20
dpa
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Bei der Europawahl musste Emmanuel Macron eine empfindliche Niederlage einstecken.
Die Rechtsnationalen haben dem französischen Präsidenten ganz klar den Rang abgelaufen. Macron kündigte daraufhin die Auflösung des Parlaments an.
Mit den Neuwahlen, die schon für den 30. Juni angesetzt sind, geht Macron ein hohes Risiko ein. Das Wahlergebnis hat nicht nur Auswirkungen auf Frankreich, sondern würde nach ganz Europa abstrahlen.
Nach dem haushohen Gewinn der Rechtsnationalen bei der Europawahl in Frankreich will Präsident Emmanuel Macron den weiteren Vormarsch der Partei um Marine Le Pen mit einem gewagten Schritt aufhalten. Schon in wenigen Wochen sollen die Französinnen und Franzosen die Nationalversammlung neu wählen.
Macron, um dessen Posten es bei dem Votum am 30. Juni und 7. Juli nicht geht, hofft auf eine grössere Mehrheit seines Mitte-Lagers für seine verbleibenden drei Jahre Amtszeit. «Wir treten an, um zu gewinnen», hiess es aus Macrons Umfeld. Nur wie?
Regierung seit langem unter Druck
Während Macron auf der internationalen Bühne gerne den Vorreiter gibt, reibt sich sein Lager zu Hause schon seit knapp zwei Jahren in der Nationalversammlung auf. Es hat dort keine absolute Mehrheit mehr und kann angesichts der vorherrschenden Kampf- und Konfrontationskultur nur äusserst mühselig und häufig mit harter Hand und der Umgehung von Abstimmungen seine Vorhaben durchsetzen.
Schon seit längerem droht ein Misstrauensvotum im Herbst. Die krachende Niederlage bei der Europawahl, in der Macron und seine Verbündeten nicht einmal die Hälfte der Stimmen bekamen, die das rechtsnationale Rassemblement National (RN) auf sich vereinte, setzt den Präsidenten weiter unter Druck. Nun wagt er die Flucht nach vorn.
Sollte Macron bei den Rechtsnationalen auf einen Vorsprung durch den Überraschungseffekt gehofft haben, hat er sich verkalkuliert. Aus der Partei hiess es, dass es bereits Pläne für eine Parlamentsauflösung und vorgezogene Neuwahlen samt Kandidatenliste gebe. Le Pen zeigte sich noch am Sonntagabend selbstsicher und bereit, Macht zu übernehmen.
Macron will die Mehrheit ausbauen, aber mit wem?
Macron jedenfalls setzt auf Klarheit und meint damit, dass er seine relative Mehrheit ausbauen will. Doch mit wem eigentlich? Das ist bisher vollkommen unklar.
Der Chef der Präsidentenpartei Renaissance, Stéphane Séjourné, streckte bereits die Hand in alle Richtungen aus. Man wolle überall dort, wo aktuell andere Abgeordnete aus dem republikanischen Feld im Parlament sitzen, keine Gegenkandidaten aufstellen. Berichten zufolge soll das für Abgeordnete aller Parteien mit Ausnahme von RN und der Linkspartei La France insoumise gelten.
Und die Reaktionen auf Macrons Angebot?
Die Républicains, für die es nach Jahren im Abwärtsstrudel ums politische Überleben geht, erteilten einer Kooperation mit Macron gleichwohl noch am Sonntagabend eine klare Absage.
Grüne und Sozialisten kritisierten die Entscheidung des Präsidenten, die Parlamentskammer aufzulösen, scharf. Vielleicht hofft Macron wenigstens davon zu profitieren, dass das linke Lager von seinem Schritt überrascht wurde und sich erst einmal intern sortieren muss.
Die Angst ist in Teilen Frankreichs gross, dass Macrons unerwarteter Schuss nach hinten losgehen könnte. Marine Le Pen hat ihre Partei RN mit einem jahrelangen «Entteufelungskurs» bis weit in die bürgerliche Mitte hinein wählbar gemacht. Bei der Europawahl holte RN in mehr als 90 Prozent der französischen Gemeinden die meisten Stimmen ...
Sollten die Rechtsnationalen bei der Neuwahl die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erringen, wäre Macron faktisch gezwungen, einen von ihnen zum Regierungschef zu ernennen. Ob ein solches Szenario eintritt, ist vollkommen ungewiss.
Bei der Parlamentswahl 2022 war das Macron-Lager auf 245 Sitze gekommen, RN nur auf 89. Sollte RN die Mehrheit holen, wäre das ziemlich beachtlich. Eine Umfrage vom Dezember 2023, mitten im aufgeheizten Streit um das Immigrationsgesetz, deutete allerdings auf erheblichen Stimmenzuwachs für RN hin.
Folgen wären in ganz Europa spürbar
Auch wenn unklar ist, was kommt, lehrt die Geschichte, dass Macrons Spiel riskant ist. Als der damalige konservative Präsident Jacques Chirac 1997 die Nationalversammlung auflöste, büsste sein Lager bei der Neuwahl die absolute Mehrheit ein, und die Sozialisten gewannen die Oberhand.
Die Ernennung eines Premiers aus einem anderen Lager? Daran will Macrons Umfeld nicht denken. «Der Präsident folgt dieser Logik nicht.» Es gebe schliesslich eine Mehrheit für Parteien, die nicht die Werte der Rechtsextremen teilten. Klar ist also: Macron will die Parlamentswahl zu einem gemeinsamen Kampf gegen Rechts deklarieren.
Sollte Macrons Poker nicht aufgehen, wäre das für Europa fatal. Macron würde deutlich an Macht verlieren und könnte seinen aussenpolitischen Kurs nicht mehr so einfach durchsetzen. Kompromisse zwischen Europafreund Macron und dem europaskeptischen RN-Chef Jordan Bardella sind nur schwer vorstellbar. Innenpolitisch dürfte Frankreich in eine chaotische Situation rutschen, international nicht mehr der derzeit verlässliche Partner sein.
Gelingt es Macron hingegen, tatsächlich stabilere Mehrheitsverhältnisse zu schaffen, könnte das auch den internationalen Partnern zugutekommen, weil der Staatschef dann nicht immer wieder Zeit und Energie aufbringen muss, das innenpolitische Schwelfeuer zu löschen.
Fest steht jedoch, dass Macron und auch Aussenminister Séjourné, der den Wahlkampf der Präsidentenpartei organisiert, in den kommenden vier Wochen international wohl kürzertreten werden. Die Partner müssen bereits beim G7-Gipfel in wenigen Tagen in Italien mit einem Macron im Wahlkampfmodus rechnen.
Frankreich blickt aufs Jahr 2027
Macron und sein Lager betonen rund um die Parlamentsneuwahl gebetsmühlenartig, dass der Präsident der einzige politische Verantwortliche sei, der mit Blick auf die nächste Präsidentschaftswahl 2027 kein persönliches Interesse habe.
Doch so einfach ist das Ganze nicht. Zwar wird Macron nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten können. Doch will der Liberale um jeden Preis verhindern, den Weg für eine rechtsnationale Präsidentin geebnet zu haben. Würde er Le Pen zu seiner Nachfolge verhelfen, wäre Macrons Kurs gescheitert.