Ukrainische Kriegswaisen «Vater wurde um sieben Uhr morgens getötet»

dpa/twei

29.5.2023 - 16:01

Olha Hinkina (rechts) ist nur eines von unzähligen Kindern, die im Ukrainekrieg zur Waise wurde.
Olha Hinkina (rechts) ist nur eines von unzähligen Kindern, die im Ukrainekrieg zur Waise wurde.
Bild: AP Photo / Hanna Arhirova

Olha und Andrij haben im Westen des Landes ein neues Zuhause gefunden. Die Kinder tragen jedoch schwer an der Last des Krieges, der sie zu Waisen gemacht und ihr Haus zerstört hat.

29.5.2023 - 16:01

Dichter Rauch hing in der Luft. Nach einer Explosion mit ohrenbetäubendem Knall herrschte unheimliche Stille. Olha Hinkina und ihr Bruder Andrij riefen nach dem Vater. Keine Antwort.

Die Geschwister, neun und zehn Jahre alt, rannten in den Luftschutzkeller, wie der Vater es ihnen beigebracht hatte. Als sie sich wieder herauswagten, hatte der Rauch sich gelichtet, und die Kinder konnten den Papa sehen: Regungslos und blutüberströmt lag er auf der Terrasse ihres kleinen Häuschens in der ostukrainischen Region Donezk. Ein Geschoss der russischen Truppen hatte ihn getroffen. «Vater wurde um sieben Uhr morgens getötet», sagt der kleine Andrij.

Er und seine Schwester gehören zu unzähligen ukrainischen Kindern, deren Leben durch den Krieg zutiefst erschüttert wurde. Neben Hunderten Kindern, die seit der russischen Invasion vor mehr als einem Jahr getötet wurden, sind es Millionen, die aus ihrem Zuhause vertrieben wurden. Viele haben die Eltern verloren. Die Erlebnisse haben Wunden gerissen und Narben in der Seele hinterlassen, die die Kinder für immer begleiten werden.

Knapp 1500 ukrainische Kinder wurden zu Waisen

Nach Zahlen der ukrainischen Behörden haben bislang mindestens 483 Kinder ihr Leben verloren, an die Tausend wurden verwundet. Und fast 1500 ukrainische Kinder wurden zu Waisen. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef schätzt, dass so rund 1,5 Millionen ukrainische Kinder von Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen Kriegsfolgen bedroht sind – womöglich mit dauerhaften Auswirkungen.

«Selbst wenn die Kinder in ein sichereres Gebiet geflohen sind, heisst das nicht, dass sie alles vergessen haben, was ihnen widerfahren ist», sagt die Psychologin Olexandra Wolochowa. Die meisten Opfer unter Kindern und Jugendlichen sind in Donezk zu beklagen. Allein dort wurden 462 tote oder verwundete Kinder gezählt. Nicht in dieser schrecklichen Zahl enthalten sind die Opfer aus der besetzten Stadt Mariupol.

Nina Poliakova spricht mit ihrer Pflegetochter Olha Hinkina in einem Erholungslager für vom Krieg betroffene Kinder und ihre Mütter.
Nina Poliakova spricht mit ihrer Pflegetochter Olha Hinkina in einem Erholungslager für vom Krieg betroffene Kinder und ihre Mütter.
Bild: AP Photo / Hanna Arhirova

Bevor der Krieg ihre Familie endgültig zerriss, lebten Olha und Andrij gemeinsam mit dem Vater in dem Dorf Torske, das inzwischen rund 35 Kilometer von der Front entfernt ist. Die Mutter war schon lange tot, jetzt sind die beiden Vollwaisen.

Familientragödien allerorten

Sicherheitskräfte und freiwillige Helfer brachten die Kinder in ein sicheres Gebiet im Westen des Landes. Dort lebt auch Nina Poliakowa, die ebenfalls aus dem Osten geflohen ist. Selbst in grosser Trauer nach dem Verlust eines Pflegesohnes, erhielt sie eines Tages den Anruf eines Sozialzentrums, ob sie bereit sei, sich mit den Geschwister Olha und Andreij zu treffen.

«Wir kannten das Dorf. Wir wussten, wo sie lebten», sagt Poliakowa. «Wir kannten diese Leute.» Beim ersten Treffen sprachen sie über das Haus der Familie und über die Tiere. Eine Lieblingsbeschäftigung Andrijs war es, die Schweine zu füttern. Poliakowa entschloss sich ziemlich schnell, die Kinder aufzunehmen.

Sie habe selbst eine Tragödie in der Familie erlebt, sagt sie. «Und dann hat das Schicksal uns einfach zusammengeführt», glaubt die 52-Jährige. «Viele Kinder sind allein, ohne Eltern. Kinder brauchen Fürsorge, Liebe. Sie wollen umarmt und getröstet werden.»

Für Olha und Andrij sei die erste Zeit besonders schwierig gewesen, sagt die Pflegemutter. «Sie waren sehr verängstigt.» Olha habe jedes Mal geweint und sich in ihre Arme geflüchtet, wenn sie Luftschutzsirenen gehört habe. Andrij sei tagsüber relativ ruhig gewesen, habe aber mitten in der Nacht begonnen zu schreien.

Kleiner Junge wünscht sich: «Ich möchte erwachsen werden»

Zusammen mit ihrem dritten Pflegekind brachte Poliakowa die Kleinen in ein Erholungscamp der Hilfsorganisation Sincere Heart. Hier trafen sie auf andere Kinder mit ähnlichen Erfahrungen, denen Spielen, Malen, Tanzen dabei halfen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten.

«Die Psyche eines Kindes ist beweglicher als die eines Erwachsenen», sagt Olena Roswadowska von der Hilfsorganisation Voices of Children, die sich um traumatisierte Kinder kümmert. Sie trügen die Erfahrung in sich, dass sie überlebt haben, erklärt sie. «Vielleicht hat sie das auch widerstandsfähiger gemacht.»

Wenn Andrij sich an seine Heimat erinnert, denkt er nicht an die Bomben, die Explosionen und den Rauch. Er sieht das wunderschöne Dorf vor sich. Und die Antwort auf die Frage nach seinen grössten Träumen? «Ich möchte erwachsen werden», sagt der Junge.

dpa/twei