Lange unterschätzt «Schufter» Nahles und die Kunst der Zuversicht

von Georg Ismar, dpa

18.4.2018

Nach 155 Jahren will mit Andrea Nahles erstmals eine Frau die Geschicke der deutschen Sozialdemokratie lenken. Sie verbiegt sich nicht - Heimat bedeutet ihr sehr viel. Unterwegs mit einer lange Unterschätzten.

Auf ihren Autofahrten durch Deutschland liest Andrea Nahles derzeit ein Buch - wenn sie mal nicht am Telefon mit ihren Ministern die Regierungsarbeit koordiniert oder Akten studiert. «Hector und die Kunst der Zuversicht», heisst es - und handelt von einem Mann, der an seinem Leben zweifelt, die Ehe zerbröckelt, die Zukunft sieht sehr mau aus. So beschliesst er, alte Freunde in aller Welt um Rat zu fragen, um neuen Mut, neue Zuversicht zu schöpfen.

Es könnte eine Parabel auf die SPD und Andrea Nahles sein. Sie ist gerade mal wieder von ihrem Bauernhof in Weiler in der Vulkaneifel nach Köln/Bonn zum Flughafen gefahren, nach Bremen geflogen, von dort ging es für sie im Dienstwagen nach Bad Fallingbostel zum Parteitag der niedersächsischen SPD. Sie ist derzeit viel an der Basis unterwegs, vor jenem entscheidenden 22. April 2018.

Jubel bei der damaligen Juso-Vorsitzenden Andrea Nahles (rechts) während der Abstimmung auf dem SPD-Jugendparteitag in der Kölner Messe am 25. November 1996.
Jubel bei der damaligen Juso-Vorsitzenden Andrea Nahles (rechts) während der Abstimmung auf dem SPD-Jugendparteitag in der Kölner Messe am 25. November 1996.
dpa

Sie will beim SPD-Sonderparteitag in Wiesbaden die erste Frau an der Spitze werden, in 155 Jahren Parteigeschichte, als Nachfolgerin des im Februar zurückgetretenen Martin Schulz. Nahles tritt als klare Favoritin gegen Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange an. Die inszeniert sich als Frau der Basis gegen Nahles, die gefühlt seit Ewigkeiten in Berlin mitmischt. Dabei ist sie erst 47 Jahre alt - ein Leben mit vielen Höhen und Tiefen.

Nahles Vorbild ist Helmut Kollig aus Kottenheim

Mit 18 hatte sie einen schweren Autounfall in Schweden, davon zeugt die Narbe auf der Stirn. Die Tochter eines Maurers ist seit der Jugend politisch aktiv, studierte Germanistik und schrieb ihre Magisterarbeit über die «Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman».

Weiler ist für Nahles auch ein Reflexionsort jenseits der Blase Berlin, hier lebt sie mit ihrer siebenjährigen Tochter. «Wenn ich samstags die Strasse kehre, kommen da immer ein paar Leute vorbei, da wird viel gequatscht und ich weiss, was die Leute wirklich beschäftigt.» Sie ist kein Darlingtyp, will sich nicht verbiegen - und wurde lange unterschätzt, wie auch Angela Merkel.

Ihr Stilmittel ist es, persönliche Erfahrungen einzuflechten. «Wie können wir den Menschen Partner sein, wenn sie, wie meine Cousine Roswitha, nach 23 Jahren bei einer Bank (...) durch einen Algorithmus ersetzt werden», fragt Nahles die Genossen in Bad Fallingbostel.

Lachend steht Andrea Nahles, damals Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD (JUSOS), am 10. Mai 1997 vor einem Plakat der Jungsozialisten in Berlin.
Lachend steht Andrea Nahles, damals Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD (JUSOS), am 10. Mai 1997 vor einem Plakat der Jungsozialisten in Berlin.
dpa

Eine Basisgeschichte gibt es auch, wenn sie nach ihrem Vorbild gefragt wird. Das war nicht Willy Brandt. Sondern: Helmut Kollig aus Kottenheim. «Willy Brandt war für mich weit weg, Helmut Kollig war ganz nah.» Kollig war ihr Deutschlehrer an der Realschule Mayen, bevor sie aufs Gymnasium wechselte. Und Kollig war Sozialdemokrat; er lehrte die Schüler, wie wichtig es ist, sich einzubringen. Es gab damals keinen SPD-Ortsverein in Weiler, Nahles gründete mit Mitschülern einen, weil man ein Jugendzentrum durchsetzen wollte.

Das Vorbild will nichts mehr mit Nahles zu tun haben

Anruf bei Helmut Kollig. Wie war Andrea Nahles denn so in der Schule? «Vorlaut.» Er hat mit der SPD gebrochen und ist vor zwei Jahren ausgetreten. «Wegen der Zerstörung der Realschulen», sagt Kollig. Zu Nahles und seiner Rolle als ihr Vorbild sagt er: «Ich fühle mich benutzt und will nichts mehr mit ihr zu tun haben.» Er meint, sie wolle mit solchen Geschichten Basisnähe suggerieren.

Die 47-Jährige muss damit leben, in Schubladen gesteckt zu werden. Wenn sie über sich eine Schlagzeile schreiben müsste, würde die wie lauten? «Schufter mit Herz», sagt sie. Dabei sind Nahles die Herzen selten zugeflogen. In Umfragen kommt sie bisher meist schlecht weg, sie polarisiert.

Nahles wollte nach dem Schulz-Rückzug sofort kommissarisch das höchste Parteiamt übernehmen, aber das wurde im Vorstand blockiert, eine Niederlage für sie. Denn das hätte nach dem Schaffen von Fakten ausgesehen.

Simone Lange, Oberbürgermeisterin von Flensburg, sitzt am 22. März 2018 vor dem Sozialausschuss des Landtages in Kiel.
Simone Lange, Oberbürgermeisterin von Flensburg, sitzt am 22. März 2018 vor dem Sozialausschuss des Landtages in Kiel.
dpa

Zumal es mit Flensburgs OB Lange eine Gegenkandidatin gibt. So übernahm SPD-Vize Olaf Scholz - bis zu dem Sonderparteitag. «Holt Lange 20 Prozent plus x, wäre das für Nahles gleich eine ziemliche Hypothek», sagt ein SPD-Stratege.

Lafontaine bezeichnete Nahles als «Gottesgeschenk»

Aber: Nahles eckt seit jeher auch in der SPD an, sie scheut nicht den Konflikt, was helfen könnte, der Partei wieder ein klares Profil zu geben. Ihr bestes Wahlergebnis waren bisher 74,8 Prozent bei der Wahl zur Vizevorsitzenden 2007. Als Generalsekretärin (2009 bis 2013) bekam sie einmal sogar nur 67,2 Prozent. Daher lautet das Wiesbaden-Ziel: 75 Prozent plus x.

Als Juso-Chefin feierte sie 1995 den Sturz Rudolf Scharpings durch Oskar Lafontaine - der bezeichnete Nahles mal als «Gottesgeschenk» für die Partei. Andere sehen sie hingegen eher als Spalterin. Einige Genossen beklagen bei ihr die gleichen Muster wie bei den Männern: Zu wenig Beteiligung bei Personalentscheidungen, Absprachen in kleinen Zirkeln.

Die Schulz-Katastrophe macht sie nun wohl zur zweitmächtigsten Frau Deutschlands nach Merkel. Beide verstehen und schätzen sich, als Bundesarbeitsministerin (2013-2017) setzte Nahles den historischen Mindestlohn durch - und galt stets als verlässlich.

Nun ist sie bewusst als Chefin der SPD-Bundestagsabgeordneten und mögliche Vorsitzende nicht Teil der Bundesregierung in der erneuten grossen Koalition. Mit mehr Beinfreiheit will sie das SPD-Profil schärfen, ein Machtzentrum neben der Regierung bilden. Ob sie, Vizekanzler Scholz oder jemand drittes die SPD in die nächste Bundestagswahl führt, das wird noch eine spannende Frage.

Als Stärke von Nahles gilt das Zuhören

Die Stärke von Nahles ist das Zuhören, sie ist volksnah (beim letzten Karneval verkleidete sie sich als Clown) und schreckt auch vor besonderem Vokabular nicht zurück. «Für die Leute machen wir das, verdammte Kacke nochmal», sagte sie über die Rente mit 63.

Entscheidend wird sein, Konflikte, etwa im Verhältnis zu Russland, beim Thema Flüchtlinge oder zur Zukunft von Hartz IV intern zu kitten, die Partei zu einen. «Man muss auch mal den Mumm haben, ein paar heisse Eisen anzufassen», sagt Nahles. So muss die SPD auch Antworten finden auf vielen ängstigende Arbeitswelt von Morgen mit Konkurrenz durch Roboter und künstliche Intelligenz.

Lange gab es die Legende, dass an jeden neuen Vorsitzenden eine Taschenuhr des SPD-Gründungsvaters August Bebel weitergereicht wurde. Tatsächlich liegt sie aber im Archiv der Ebert-Stiftung. Nahles hätte auch keine Verwendung. «Ich benutze keine Taschenuhren; und in der weiblichen Garderobe ist dafür auch gar kein Platz vorgesehen.»

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