Jahrzehnte alte Wunde Warum Erdogan die türkische Grenze zu Griechenland in Frage stellt

von Thomas Paul, sda

11.5.2018

Recep Tayyip Erdogan Ende März auf einer Parteiveranstaltung. (Archiv)
Recep Tayyip Erdogan Ende März auf einer Parteiveranstaltung. (Archiv)
Keystone

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan lässt nach dem Putschversuch von 2016 gegen ihn Zehntausende Anhänger der Gülen-Bewegung aus dem Staatsdienst entlassen und Tausende einsperren, ausserdem sitzen über hundert unliebsame Journalisten im Gefängnis. Aber auch die Grenze zu Griechenland stellt er in Frage. Warum?

In der Republik Türkei herrschte jahrzehntelang die Auffassung vor, dass das Land mit dem Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923 und den darin garantierten Grenzen gut leben könne - ganz anders als mit denjenigen aus dem Diktat-Frieden von Sèvres von 1920.

Dieser hatte das unterlegene Osmanische Reich nach dem Willen der Siegermächte Grossbritannien und Frankreich zu einem anatolischen Rumpfstaat machen wollen - ohne einen Teil der Mittelmeerküste und weite Teile in Ostanatolien, die an Armenier und Kurden gehen sollten.

Inseln «mit unseren Moscheen»

Inseln «mit unseren Moscheen» seien 1923 an Griechenland abgetreten worden, lamentierte Erdogan im Herbst 2016 in einer Rede vor Dorfvorstehern.

Mit dem Vertrag von Lausanne wurden 1923 fast sämtliche Ägäis-Inseln - auch solche beinahe in Rufweite vor der türkischen Küste - Griechenland zugeschlagen. Dies, nachdem in einem erzwungenen Bevölkerungstausch rund 1,5 Millionen Griechen ihr Siedlungsgebiet auf dem türkischen Festland verlassen mussten und etwa eine halbe Million Türken griechischen Boden.

Was jahrzehntelang von Ankara akzeptiert war - die türkischen Staatsgrenzen nach dem Vertrag von Lausanne 1923 - stellte Erdogan aber erst kürzlich bei einem Treffen mit dem griechischen Präsidenten Prokopis Pavlopoulos im Dezember vergangenen Jahres in Athen erneut in Frage: Er forderte von Griechenland eine «Aktualisierung» des Vertrages.

Welcher Teufel hatte den türkischen Staatschef dabei geritten?, mag man sich in Athen, und nicht nur dort, gefragt haben.

Nur ein Ablenkungsmanöver?

Maurus Reinkowski, Professor am Seminar für Nahoststudien an der Universität Basel, sieht in Erdogans Verhalten eher ein Ablenkungsmanöver als einen ernsthaften Anspruch, wie er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur SDA sagt - ein Ablenkungsmanöver, aber auch eine Kursänderung gegenüber dem Neo-Osmanismus, wie ihn Ahmet Davutoglu, der frühere Aussenminister (2009-2014) und Ministerpräsident (2014-2016) unter Präsident Erdogan, vertreten hat.

In den 2010er Jahren habe sich in der von Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) gestellten Regierungselite die Meinung herausgebildet, dass die so genannte Sykes-Picot-Ordnung, die nach dem Ersten Weltkrieg mit willkürlich gezogenen Interessengrenzen zwischen den imperialen Mächten Grossbritannien und Frankreich entstand und die dann die neu erstandenen Mandate und späteren Staaten - darunter Syrien, Jordanien, Israel und Irak - definierte, ungerecht sei.

Diese türkische Forderung nach einer Revision betraf aber nur die östliche arabische Welt, vor allem Syrien und Irak. Von der griechisch-türkischen Grenze war noch nicht die Rede. Warum aber jetzt die Ägäis? Die Gründe für Erdogans übermässige Forderungen scheinen innen- wie auch aussenpolitisch motiviert zu sein.

Suche nach neuem Feindbild

Braucht Erdogan vielleicht nur ein weiteres Feindbild? Feindbilder seien natürlich immer wirksam, wenn man die eigene Bevölkerung mobilisieren und von wirtschaftlichen und anderen Problemen ablenken wolle, sagt Reinkowski.

«Die Ägäis-Inseln lagen zwar über Jahrhunderte hinweg innerhalb des osmanischen Herrschaftsgebietes, waren aber immer griechisch geprägt und besiedelt», betont Reinkowski. Die Türkei könne also auf diese Inseln keine identitätspolitischen Ansprüche erheben. Allgemeine historische Ansprüche verfingen nicht, denn in diesem Falle sollte die Türkei viel eher Makedonien, Kosovo oder Albanien für sich zurückfordern.

Türkische Invasion unwahrscheinlich

Eine türkische Invasion der Ägäis-Inseln sieht Reinkowski darum «derzeit ausserhalb jeder realen politischen Kalkulation». Die westliche Staatengemeinschaft würde einen solchen türkischen Übergriff nicht hinnehmen, ist er überzeugt.

Griechenland werde also Erdogans Verhalten eher als Drohkulisse werten für konkrete Forderungen wie die Auslieferung türkischer Offiziere, die sich nach dem Putschversuch vom Juli 2016 nach Griechenland geflüchtet haben, oder die Umsetzung der Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger durch die EU, meint Reinkowski.

Der Hinweis Erdogans auf die aus seiner Sicht zu Unrecht Griechenland zugeschlagenen Ägäis-Inseln, habe «sicherlich auch etwas mit dem Flüchtlingspakt zu tun», mit dem die EU den Migrantenstrom aus dem Nahen und Mittleren Osten übers Mittelmeer eindämmen wollte, meint Reinkowski. Der türkische Präsident habe so «den Druck und die Drohkulisse erweitern» wollen.

Als Modell abgeschrieben

Dass das verbale Gepolter des türkischen Präsidenten in den vergangenen Monaten, wenn nicht Jahren, Schaden angerichtet hat, lässt sich nicht übersehen. Die Entfremdung zwischen der Türkei auf der einen Seite und der Nato, den USA und der EU auf der anderen Seite sei schon weit fortgeschritten, meint Reinkowski. Und: «Die Türkei als vielversprechendes Projekt und als Modellfall der Vereinbarkeit von Islam und Demokratie ist längst abgeschrieben.»

Zugleich erschienen die Andeutungen, die Nato unter Umständen verlassen zu wollen, «mehr als nur eine der so üblich gewordenen Drohungen», sagt der Basler Islamwissenschaftler.

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