Bündner Pflegekräfte irritiertKanton hält an Meldepflicht fest, bietet aber niemanden auf
Von Gil Bieler
4.2.2022
Strassen-Umfrage zu den Lockerungen: «Es geht wieder bergauf, das freut mich»
Der Bundesrat will weiter lockern: Zertifikats- und Maskenpflicht könnten bald Geschichte sein. Wie geht es den Menschen mit dieser Ankündigung? Wir haben in Bern nachgefragt.
03.02.2022
Noch diesen Monat sollen die Corona-Massnahmen wegfallen. Alles wieder wie früher? Zumindest für Pflegende gilt das noch nicht, wie das Beispiel Graubünden exemplarisch zeigt.
Von Gil Bieler
04.02.2022, 18:58
Gil Bieler
Ignazio Cassis sieht den «Beginn einer neuen Phase in dieser langen Krise». Auch wenn der Bundespräsident am Mittwoch betonte, dass die Pandemie nicht vorbei sei, so sehe er doch «ein Licht am Horizont». Der Tenor ist klar: Die Schweiz läuft der Ziellinie entgegen, wenn jetzt keine neue Virusvariante dazwischengrätscht.
Zurück zum Courant normal – das gilt nicht für alle. Zum Beispiel für all jene, die in Graubünden dem Pflegeberuf den Rücken gekehrt hatten. Während sich die breite Bevölkerung über Lockerungen freuen kann, sind sie dazu verpflichtet, sich für allfällige Einsätze wegen der Omikron-Welle bereitzuhalten. Erst drei Wochen ist dieser Aufruf des Kantons her.
Es ist eine schweizweit einmalige Meldepflicht, die entsprechend grosse Beachtung fand. Und: «Der vorsorgliche Aufruf gilt derzeit weiterhin», bestätigt Daniel Camenisch, Leiter der kantonalen Kommunikationsstelle Coronavirus. Wie weiter verfahren werde, müsse sich noch zeigen.
«Das macht viele Pflegende wütend»
Eine der Betroffenen ist Bettina Hoch. «Es ist unschön, dass solcher Druck ausgeübt wird. Das macht viele Pflegende wütend», sagt sie. Ihr Arbeitspensum für die Kinder-Spitex hatte sie Ende 2021 eigentlich aufgegeben, sich dann aber wieder beim Kanton gemeldet. «Ich habe eine Bestätigung erhalten, seither aber nichts mehr gehört.»
Dem Eindruck, dass die Pandemie nun auf die Ziellinie einbiege, dürften viele widersprechen, sagt Hoch. Sie ist auch Vorstandsmitglied des Bündner Berufsverbands für Pflegefachpersonal und weiss um die Stimmung in der Branche. Sie sagt: «Gerade in den Spitälern sind viele einfach am Anschlag.»
Die Krise sei nicht ausgestanden, «die Arbeit verlagert sich jetzt einfach». Denn auch wenn die Zahl der Spitaleinweisungen wegen einer Corona-Infektion zurückgehe, stünden noch viele andere Eingriffe an – wegen Corona seien viele Operationen lediglich aufgeschoben worden.
Die Meldepflicht im Kanton sieht sie mit gemischten Gefühlen: «Einerseits verstehe ich die Regierung, es geht ja darum, die Bevölkerung bestmöglich zu schützen. Aber wenn sich jemand bewusst entschieden hat, den Pflegeberuf zu verlassen, dann müsste man das respektieren.» Das gelte in besonderem Mass für Kolleg*innen, die in der Akutpflege tätig gewesen seien. «Ich kenne so einige, die die Meldepflicht für eine Frechheit halten.»
Bundespräsident: «Die Pandemie ist noch nicht vorbei, aber wir sehen Licht am Horizont»
Der Bundesrat hebt ab Donnerstag die Homeoffice-Pflicht und die Kontaktquarantäne auf. Aus Sicht der Regierung lässt die Situation in den Spitälern diesen Schritt zu. Ausserdem stellt die Regierung umfassende Lockerungen der übrigen Massnahmen in Aussicht. «Heute ist ein Freudentag», sagte der Bundespräsident Ignazio Cassis zur Einleitung der Medienkonferenz.
04.02.2022
Ähnlich argumentiert der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner: Statt auf eine Pflicht zu setzen, sollten Pfleger*innen über andere Anreize – etwa finanzielle – rekrutiert werden, sagte Geschäftsführerin Yvonne Ribi kürzlich zu blue News.
Immerhin: Wer gut begründen könne, dass er oder sie nicht mehr in der Pflege arbeiten wolle, werde auch nicht wieder aufgeboten, glaubt Hoch. Alles andere wäre auch schlicht nicht sinnvoll. «Jemanden nach jahrelanger Pause wieder in den Beruf einzuführen, das bedeutet für die Pflegenden eine grosse Zusatzbelastung.»
Situation in den Spitälern entspannt sich
Beim Kanton Graubünden heisst es: Insgesamt hätten sich rund 300 Personen auf den Aufruf hin gemeldet, effektiv aufgeboten worden sei aber niemand. «Die Spitäler sind es gewohnt, sich laufend den Situationen anzupassen», sagt Daniel Camenisch.
Geht es nach den Bündner Behörden, darf man auch seine Wintersportferien mit gutem Gewissen antreten: «Zuletzt hat sich die Situation in den Bündner Spitälern merklich entspannt», so Camenisch. Gemäss den Zahlen vom Freitag waren in dem Bergkanton 61 Prozent der Intensivpflegebetten belegt. Im Wallis war die Auslastung etwas höher bei 75 Prozent, im Kanton Bern bei 79,5 Prozent.