Jurafrage Moutier vor der «komplexesten je durchgeführten Abstimmung»

Von Gil Bieler

23.3.2021

Bern oder Jura? Moutier entscheidet am Sonntag erneut über die Kantonsfrage. Wieso der Urnengang von 2017 wiederholt werden muss und wie der Bund neuen Streit verhindern will: die wichtigsten Antworten.

Von Gil Bieler

23.3.2021

Keine 7500 Einwohner*innen zählt Moutier, doch die Kleinstadt ist Schauplatz des wohl bekanntesten Konflikts des Landes. In dem Städtchen im Berner Jura tobt seit Generationen ein Streit um die Identität. Das eine Lager findet, Moutier soll weiterhin Teil des Kantons Bern bleiben. Das andere Lager will zum Kanton Jura wechseln. Am Sonntag, 28. März, entscheidet die Stimmbevölkerung über die Zukunft von Moutier. Einmal mehr. «blue News» klärt die wichtigsten Fragen dazu.

Gab es zur Jurafrage nicht schon mal eine Abstimmung?

Schon mehrmals. Die letzte vom 18. Juni 2017 endete mit einem hauchdünnen Ja für einen Kantonswechsel, nur 137 Stimmen gaben den Ausschlag. Der Urnengang sollte eigentlich Klarheit schaffen – doch es kam anders.

Wieso wird jetzt nochmals abgestimmt?

Weil die Abstimmung von 2017 von der Berner Justiz für ungültig erklärt wurde. Das unterlegene Pro-Bern-Lager legte Beschwerde ein und erhielt Recht. Die zuständige Regierungsstatthalterin bemängelte, die Gemeindebehörden und der Stadtpräsident von Moutier hätten vor der Abstimmung «unzulässige Propaganda» betrieben. Zudem habe der Urnengang gravierende Mängel aufgewiesen, zum Beispiel sei die Identität der Stimmenden im Stimmlokal nicht kontrolliert worden. Auch Vorwürfe des Abstimmungstourismus kamen in diesem Zusammenhang auf. Das bernische Verwaltungsgericht stützte diesen Entscheid, die Abstimmung muss daher wiederholt werden.

Nachdem die Abstimmung von 2017 für ungültig erklärt wurde, gehen Pro-Jurassier im August 2019 in Moutier demonstrieren – und tragen symbolisch die Demokratie zu Grabe. 
Nachdem die Abstimmung von 2017 für ungültig erklärt wurde, gehen Pro-Jurassier im August 2019 in Moutier demonstrieren – und tragen symbolisch die Demokratie zu Grabe. 
Bild: Keystone

Wird dieses Mal strenger kontrolliert?

Und ob! Das Bundesamt für Justiz will sicherstellen, dass es beim neuerlichen Urnengang keine Unregelmässigkeiten gibt – und betreibt dafür viel Aufwand: Unter anderem erhalten die Stimmberechtigten ihr Abstimmungscouvert nicht von der Gemeinde, sondern direkt aus Bundesbern. Um Fälschungen zu verhindern, tragen Stimmrechtsausweis und Stimmzettel zudem ein Wasserzeichen. Wer brieflich abstimmt, schickt sein Couvert entweder zurück nach Bundesbern oder wirft es in einen speziellen, vom Bundesamt für Justiz versiegelten Behälter im Rathaus von Moutier ein. Darüber hinaus darf die Stimmabgabe nur im Abstimmungslokal erfolgen, wo – wie schon 2017 – erneut sechs Bundesbeobachter das Prozedere überwachen.



Nach Vorwürfen des Stimmtourismus wurde auch das Stimmregister kontrolliert, rund 800 Personen mussten Angaben zu ihrem politischen Wohnsitz abgeben, wie der Jurabeauftragte des Bundes, Jean-Christophe Geiser, zu SRF sagte. Und: Die Abgabe der Abstimmungsunterlagen in Altersheimen und Spitälern muss minutiös protokolliert werden. Das Bundesamt für Justiz spricht von der «zweifellos komplexesten je in der Schweiz durchgeführten Abstimmung».

Herrscht nach dem 28. März endlich Gewissheit?

Das ist alles andere als gewiss. Auch wenn es wegen der Corona-Pandemie keinen besonders emotionalen Abstimmungskampf gab, könnte das Resultat erneut knapp ausfallen. Und die unterlegene Seite hat auch dieses Mal die Möglichkeit einer Abstimmungsbeschwerde. In diesem Fall müsste wiederum die Regierungsstatthalterin die Rechtmässigkeit des Urnengangs prüfen, später allenfalls auch das bernische Verwaltungsgericht und schliesslich das Bundesgericht.

Und wenn niemand vor Gericht zieht?

Dann wird das Ergebnis relativ rasch rechtskräftig. Bei einem Nein zum Kantonswechsel bleibt alles beim Alten. Bei einem Ja würden die Kantone Bern und Jura die für einen Wechsel nötigen Schritte einleiten. Moutier würde dadurch zu einer Enklave im Berner Jura: Das Städtchen wäre von Berner Gebiet umschlossen.

Was soll der ganze Streit überhaupt?

Die Spannungen in der Jurafrage reichen weit zurück. Ein Abriss: Am Wiener Kongress von 1815 wurden sieben Bezirke des Bistums Basel dem Kanton Bern zugesprochen, darunter auch Moutier. Doch bald schon begann eine jurassische Separatistenbewegung, sich gegen die Berner Autoritäten aufzulehnen. «Im Jura gibt es seither für dasselbe Territorium zwei Narrative und Identitäten, die sich gegenseitig ausschliessen», erklärt der Historiker Clément Crevoisier dem «TagesAnzeiger». Die eine Seite sehe den Jura «als funktionierenden Teil des Kantons Bern, die andere als autonomen Teil der Schweiz».

«Cool bleiben»: Berntreue werben mit einem Smiley-Transparent über einem in den Felsen gemalten Jura-Wappen für ein Nein zum Kantonswechsel. 
«Cool bleiben»: Berntreue werben mit einem Smiley-Transparent über einem in den Felsen gemalten Jura-Wappen für ein Nein zum Kantonswechsel. 
Bild: Keystone

Ist Moutier ein Einzelfall?

Nein, auch andere bernjurassische Gemeinden kennen ähnliche Diskussionen. So stimmten die Dörfer Sovillier und Belprahon im September 2017 ebenfalls über einen Kantonswechsel ab, beiderorts siegte aber das Nein-Lager. Sie bleiben damit bernisch.

Transparenz: Dieser Artikel wurde mit Material der Nachrichtenagentur Keystone-SDA ergänzt.