Ein Jahr Frauenstreik «Uns steht eine Schlacht bevor, wir stellen gerade erst die Ritterinnen auf»

Von Valerie Zaslawski

14.6.2020

Die Bilanz zum einjährigen Jubiläum des Frauenstreiks fällt gemischt aus. Das Coronavirus hat die Emanzipation geschwächt. Gleichzeitig wurde ein Bewusstsein für den Wert der Care-Arbeit geschaffen. Alte Forderungen werden gerade neu definiert.

In ein lila-pinkes Farbenmeer tauchte die Schweiz vor genau einem Jahr ein. Trommeln, Musik und laute Parolen hallten durch die Strassen. Bunte Transparente mit ebenso bunten Forderungen prägten das Bild der Städte.

Das Land war on fire – und übertraf sich selbst: Rund 500'000 Menschen gingen am 14. Juni 2019 auf die Strasse, um für Lohn, Zeit und Respekt zu demonstrieren: «Wenn Frau will, steht alles still!» Oder: «Die Frau ist geboren, um den Haushalt zu schmeissen! Nur: Wem an den Kopf?»



Der Frauenstreik ging als die grösste politische Mobilisierung des Landes in die neuere Geschichte ein. Möglich wurde er dank der erfolgreichen Vernetzung zahlreicher Komitees, die in den verschiedenen Landesteilen den Grossevent aufgegleist und koordiniert hatten.

Wütende Frauen gehen am Frauenstreik vor einem Jahr auf die Strassen.
Wütende Frauen gehen am Frauenstreik vor einem Jahr auf die Strassen.
Bild: Keystone

Nach diesem denkwürdigen Tag, so schien es, gab es kein Zurück mehr. Die Zeichen standen auf Wandel. Frauen und ihre Anliegen sollten nicht mehr ignoriert werden können. Und tatsächlich: Gleich nach dem Frauenstreik, noch während der letztjährigen Sommersession, stimmte nach dem Nationalrat auch der konservative Ständerat den Geschlechterrichtwerten zu. Und in der Herbstsession sagte das Parlament Ja zum Vaterschaftsurlaub.



Das alles gipfelte in die nationalen Wahlen, ebenfalls im Herbst 2019, die zur «Frauenwahl» wurden. Wenn auch weit entfernt von einer Parität, sitzen in der grossen Kammer seither immerhin 42 Prozent Frauen (vorher: 32 Prozent), und in der kleinen Kammer haben die Kantone nun zwölf Vertreterinnen. Letzteres entspricht verglichen mit vor den Wahlen einer Verdoppelung.

… und dann kam Corona

Doch noch bevor sich die neuen Parlamentarierinnen richtig warmlaufen konnten, um sich für die Anliegen der Frauen starkzumachen, passierte, womit niemand gerechnet hatte: Es kam Corona.

Mit dem Virus brach wiederum eine neue Zeitrechnung an. Nicht nur die Bevölkerung und die nationalen Gesundheitssysteme wurden vor grosse Herausforderungen gestellt, auch klassische Geschlechterrollen wurden zementiert: Es waren die Frauen, die in den Wochen des Lockdowns das Ruder übernahmen; sie waren Hausfrau, Lehrerin und Managerin zugleich.

Kurzzeitig wurden sie als die wahren Heldinnen der Krise gefeiert, an den Kassen der Supermärkte genauso wie in den Krankenhäusern. Sie waren, dies mochte nun kaum mehr einer leugnen: systemrelevant. Damit wurde auch ein Bewusstsein für die Versorgungswirtschaft geschaffen. Und von den Balkonen aus wurde geklatscht.

Doch: Bald schon wurde klar, dass Klatschen alleine nicht ausreicht.

«Es braucht einen langen Atem»

So sind nun, auf das einjährige Jubiläum des Frauenstreiks hin, neue Forderungen formuliert und alte unterstrichen worden. 70 Organisationen, darunter auch SP und Grüne, verlangen in einem Appell an den Bundesrat und das Parlament Mitbestimmung am Verhandlungstisch, gendergerechte Massnahmen zum wirtschaftlichen Aufschwung, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in systemrelevanten Berufen, eine Strategie gegen Gewalt an Frauen und spezifische Unterstützung für Migrantinnen.

Last but not least dürfe die Finanzierung der Krise nicht auf dem Rücken der Frauen ausgetragen werden. Sparprogramme dürften nicht in erster Linie Frauen treffen.

Ausserdem wurden in den vergangenen Monaten für den heutigen Sonntag unter widerspenstigen Bedingungen zahlreiche Aktionen geplant.

In Kleingruppen werden regionale Komitees coronagerecht unterwegs sein und ebenfalls an die Forderungen erinnern. Die Berner SP-Nationalrätin Tamara Funiciello, welche die Anliegen der Frauen seit vergangenem Herbst im Bundeshaus vertritt, sagt: «Der Frauenstreik lebt!» Das Netzwerk, welches im Vorfeld des Grossereignisses geschaffen wurde, sei zentral, um den Druck der Strasse aufrechtzuerhalten. Es mache die Frauenbewegung «schlagkräftig».

Nationalrätin Sibel Arslan macht ein Selfie mit Nationalratspräsidentin Marina Carobbio Guscetti, Bundesrätin Viola Amherd und Nationalrätin Isabelle Moret auf dem Bundesplatz.
Nationalrätin Sibel Arslan macht ein Selfie mit Nationalratspräsidentin Marina Carobbio Guscetti, Bundesrätin Viola Amherd und Nationalrätin Isabelle Moret auf dem Bundesplatz.
Bild: Keystone

Gerade die Corona-Krise habe jedoch gezeigt, dass der Frauenstreik auch gern ignoriert werde. Wie sonst lasse sich erklären, dass ausgerechnet die Kitas von den Behörden hängen gelassen wurden, während gleichzeitig die Wichtigkeit familienexterner Kinderbetreuung sich offenbarte. Sie mahnt: «Es braucht einen langen Atem.»

Lohn für Hausarbeit gefordert

Im Parlament möchte sich Funiciello für die Reduzierung der Arbeitszeit einsetzen und versucht derzeit, eine Lobby für die Frauen aufzubauen. Das Thema Arbeit beschäftigt aber nicht nur die ehemalige Juso-Präsidentin. Vielmehr steht es im Zentrum der aktuellen Debatte, unabhängig der parteipolitischen Grenzen.

Auch Netzwerke wie Wide Switzerland stellen das Thema in den Fokus ihres Tuns. Projektleiterin Anja Peter ist Historikerin, Mutter und Hausfrau, sie fordert die ökonomische Aufwertung der Sorge- und Versorgungswirtschaft, die, gemessen am Arbeitsvolumen, fast 70 Prozent der gesamten Wirtschaft ausmacht.



Die Zahlen stärken ihr den Rücken: So arbeiten Frauen hierzulande zwar gleich viele Stunden wie Männer, haben aber 100 Milliarden weniger Einkommen, weil ein wesentlich grösserer Anteil ihrer Arbeitsstunden schlechter oder gar nicht bezahlt ist.

Peter findet: Das sei «Ausbeutung» und Care-Arbeit noch immer ein «blinder Fleck». Die Finanzierung dieses Sektors müsse neu gedacht werden. Denn: Care-Arbeit sei entscheidend, wenn es um unser aller Wohlstand gehe.

«Die göttliche Ordnung lebt!»

Der Frauenstreik, so die gewagte These, hat sogar eine feministische FDP-Frauen-Präsidentin hervorgebracht, die sich das Thema Arbeit ebenfalls auf die Fahne geschrieben hat. Die vergangenen Mai gewählte Susanne Vincenz-Stauffacher, Rechtsanwältin und St. Galler Nationalrätin, sagte kürzlich in einem Interview mit der NZZ: «Die göttliche Ordnung lebt!»

Ihre Vorgängerin Doris Fiala fand den Streik hingegen deplatziert und gab vor einem Jahr zu Protokoll, die göttliche Ordnung sei überwunden.

Vincenz-Stauffacher schärft demnach das gesellschaftspolitische Profil der Partei. Sie möchte sich für eine Aufwertung der Teilzeit-Beschäftigung einsetzen, welche Hand in Hand gehe mit einer Aufwertung der Hausarbeit. Diese dürfe kein Statusverlust mehr sein. Frauen möchte sie sichtbarer machen. Gegenüber «Bluewin» sagt sie, Quoten könnten dabei als Übergangslösung durchaus sinnvoll sein.

Die Liberale plädiert gleichzeitig an die Bringschuld der Frauen, die den Wert ihrer Arbeit stärker betonen sollten. Sprache sei dabei ein wichtiges Instrument, denn Sprache sei Macht. Frauen sollten sich demnach nicht klein machen, dürften ihre Erziehungsarbeit durchaus auch mal als erfolgreiches Management bezeichnen.

Hoffen auf eine «unverkrampfte Zusammenarbeit»

Viel Arbeit steht auch im Parlament an, die gesellschaftspolitische Traktandenliste ist lang: Ist man optimistisch, könnte in der Herbstsession die Behandlung der AHV21 im Ständerat beginnen.

Hier wollen sich die politischen Vertreterinnen mit unterschiedlichen Schwerpunkten für eine bessere Altersvorsorge für Frauen einsetzen. Auch die Pflege-Initiative, welche die Ausbildung von zusätzlichen Pflegekräften fordert, könnte laut den Parlamentsdiensten im Herbst anstehen. Corona dürfte dem Anliegen Rückenwind verschaffen.

Zudem rückt die Revision des Sexualstrafrechts näher, hier soll der Begriff der Vergewaltigung neu definiert werden. Und noch vor der Abstimmung über den Vaterschaftsurlaub im September planen die Befürworter einer Elternzeit auch schon eine neue, radikalere Initiative. Die Rede ist von 30 Wochen, geteilt zwischen Mutter und Vater.

Gleichzeitig liegt bei der SP die «Frauen-Initiative» in der Schublade, im Zentrum stehen die Themen Elternzeit und Lohngleichheit. Das Recht auf Kinderbetreuung soll ebenso wie das Recht auf Schulbesuch in der Bundesverfassung verankert werden.

Zurücklehnen ist also noch lange nicht angesagt. Oder um es in den Worten von Funiciello zu sagen: «Uns steht eine Schlacht bevor, wir stellen gerade erst die Ritterinnen auf.»

Vincenz-Stauffacher zeigt sich zuversichtlich, dass eine Vernetzung unter der Bundeshauskuppel für das Erreichen der Frauenanliegen förderlich sein wird. Sie hofft auf eine «unverkrampfte Zusammenarbeit» zwischen Links und Rechts. Und ist überzeugt: «Heute sehen die Parteien die Frauenanliegen weniger schwarz-weiss.»

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