Ukraine und Litauen Atomtourismus-Hype nach Serie «Chernobyl»

von Alexander Welscher und Andreas Stein, dpa/uri

5.3.2020

Immer mehr Touristen besuchen das Sperrgebiet um den Unglücksreaktor in Tschernobyl. Doch auch nach Litauen kommen immer mehr Besucher, die sich die Drehorte der Erfolgsserie anschauen wollen.

Ein klein wenig mulmig wird es vielen der Touristen schon, wenn sie im stillgelegten Kernkraftwerk Ignalina auf dem Schachbrettmuster aus kleinen grauen Metallplatten stehen. Sieben Meter unter ihren Füssen befand sich abgeschirmt durch mehrere Schutzschichten bis vor gut zehn Jahren noch der Druckbehälter mit Brennstäben. Dann war Schluss für Litauens wichtigste Energiequelle, die baugleich mit dem 1986 havarierten Unglücksreaktor in Tschernobyl ist. Doch seitdem der einst grösste Meiler der Sowjetunion in Litauen als Kulisse für die erfolgreiche Miniserie «Chernobyl» des Senders HBO (in Deutschland bei Sky zu sehen) diente, ist Ignalina zu einer neuen Touristenattraktion in dem EU-Land geworden.

«Seitdem die Serie ausgestrahlt wurde, haben wir eine Vielzahl mehr an Touristen als üblich», erzählt Audrius Kamienas, Generaldirektor des stillgelegten Kernkraftwerks. Viele Zuschauer wollten den Drehort des fünfteiligen Dramas besuchen, das realitätsnah und düster die grösste Atomkatastrophe in der zivilen Nutzung der Kernenergie aufgriff. Doch auch am eigentlichen Unglücksort in der Ukraine boomt mehr als 30 Jahre nach dem Super-GAU der Tourismus – zahlreiche Besuchergruppen strömen zur Atomruine.



Touren über Monate hinweg ausgebucht

Ignalina-Touren sind noch über mehrere Monate hinweg ausgebucht. 2019 besuchten 4'884 Touristen das Kraftwerk – mehr als doppelt so viele wie 2018. Und die Nachfrage aus Litauen, Europa und aller Welt steigt. Statt bislang drei Touren pro Woche finden nun an vier Tagen bis zu zwei Führungen für Gruppen von maximal 15 Personen statt. «Wir mussten dafür zusätzliche Führer einstellen», sagt Kamienas.

Litauen hatte das Kraftwerk auf EU-Vorgabe Ende 2009 vom Netz genommen und stellt seitdem seine Energieversorgung auf neue Beine – ohne Atomkraft. Trotz Stilllegung gelten weiter hohe Sicherheitsanforderungen. Bewaffnete Uniformierte kontrollieren hier. Mobiltelefone, Fotokameras und andere technische Geräte sind ebenso wie Essen und Trinken strikt verboten in der riesigen Anlage.

In einem blütenweissen Overall und mit einem Schutzhelm auf dem Kopf werden die Besucher bei der rund dreistündigen Tour durch ein Labyrinth aus endlos langen Gängen geführt. Schilder und Warnhinweise hängen da noch auf Russisch aus Sowjetzeiten. Gezeigt werden neben dem einstigen Reaktorraum auch die Turbinenhalle mit zerlegten Maschinenteilen.

Am legendären Knopf für die Reaktor-Notabschaltung

Herzstück ist der fensterlose Kontrollraum des Reaktors. Besucher posieren neben Bildschirmen aus alten Zeiten und Tischen mit Knöpfen und Schaltern. Hier befindet sich auch der legendäre Knopf für die Reaktor-Notabschaltung, der im Film «Chernobyl» gedrückt wird. Ein Konstruktionsfehler verursachte damals im ukrainischen Kraftwerk die fatale Kettenreaktion. Es kam zur Explosion. Die Folgen sind bis heute zu spüren.

«Ignalina ist etwas für richtige Liebhaber und sehr informativ, weil es eben ein Drehort der Serie war, und um sich mal anzugucken, wie ein Kraftwerk aussieht, das nicht explodiert ist», schildert Sven Heiduk aus Oberhof in Thüringen nach der Tour seine Eindrücke. «Tschernobyl ist aber ein bisschen spannender. Und man darf selbst fotografieren.»



Heiduk kennt sich an der rund 600 Kilometer von Ignalina entfernten Atomruine in der Ukraine aus. Der 48-Jährige bietet deutschsprachige Touren für kleinere Gruppen an. Die Nachfrage steigt auch bei ihm. «Vorher waren es Abenteurer, seit der Serie wollen mehr Leute wissen, was damals beim Unfall passierte», sagt er.

«Es ist schon richtig Massentourismus»

In der Ukraine hat der Katastrophentourismus bereits seit der Öffnung der Sperrzone um den havarierten Reaktor für Touristen im Jahr 2011 Fahrt aufgenommen. 2019 wurde zum ersten Mal die Marke von 100'000 Besuchern übertroffen. «Es ist schon richtig Massentourismus», sagt Heiduk.

Innerhalb der einstigen 30-Kilometer-Sperrzone bieten ein Hotel und ein Hostel Übernachtungen an. Und ein Ende des oft auf schmalem Grat zwischen Sensationslust und geschichtlichem Interesse wandelnden «Dark Tourism» ist nicht in Sicht. «Jedes Jahr wächst die Zahl der Touristen im Schnitt um 100 Prozent», sagt Tschernobyl-Touranbieter Jaroslaw Jemeljanenko. Zur Serie «Chernobyl» meint Jemeljanenko: «Dem Gefühl nach haben etwa zehn Prozent der Touristen, die 2019 in der Sperrzone waren, die Serie gesehen.» Eine Spezialtour zum Film an die Originalorte sei bis zum Herbst bereits ausgebucht. Am populärsten seien Besuche an der Ruine und in der Geisterstadt Prypjat.

Bei manchen fährt die Angst vor der allgegenwärtigen Radioaktivität mit. Strahlungsmessgeräte sind der Verkaufsschlager an den Souvenirkiosks vor dem Sperrgebiet. Auch in Ignalina ist ein Dosimeter immer dabei. Am Ende der Tour wird jeder Besucher am Ausgang auf Kontamination untersucht.

Sorgen um neues AKW in Weissrussland

Sorgen bereitet vielen Litauern die Errichtung eines neuen Atomkraftwerks in Weissrussland, das die autoritäre Führung in Minsk trotz massiver Sicherheitsbedenken aus dem Nachbarland baut. «Der Sargnagel Litauens» – so nennen viele die nur rund 50 Kilometer von der litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt liegende Anlage.

Aber das Interesse will der Baltenstaat auch für sich nutzen. Auch die einst für Ignalina aus dem Boden gestampfte Retortenstadt Visaginas sieht im Atomtourismus eine Chance. Ignalina-Chef Kamienas erwartet noch mindestens bis zum Abschluss des Rückbaus des Kraftwerks 2038 weiter Besucher. Einen Ort wie Ignalina gebe es sonst kaum.

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