Modell für die Schweiz? Autofrei in die Zukunft: Berlin startet Experiment

dpa/toko

5.10.2019

Blick auf die Friedrichstrasse zwischen der Strasse Unter den Linden und der Dorotheenstrasse. Zum autofreien Wochenende an der Berliner Friedrichstrasse am 5./6. Oktober soll ein buntes Rahmenprogramm Besucher anlocken.
Blick auf die Friedrichstrasse zwischen der Strasse Unter den Linden und der Dorotheenstrasse. Zum autofreien Wochenende an der Berliner Friedrichstrasse am 5./6. Oktober soll ein buntes Rahmenprogramm Besucher anlocken.
Source: Jörg Carstensen/dpa

Die deutsche Hauptstadt Berlin will eine ökologische Verkehrswende. Das Megaprojekt hat viele Facetten. An der berühmten Friedrichstrasse kommt nun eine dazu.

Stinkende Kloake und Barrikadenkämpfe, ein ausschweifendes Nachtleben und schicke Restaurants, Zerstörung und Teilung durch eine Grenze, Auferstehung als Shopping- und Amüsiermeile.

In ihrer mehr als 200-jährigen Geschichte hat die Berliner Friedrichstrasse schon viele Höhen und Tiefen erlebt. Nun könnte sie sich erneut ein stückweit neu erfinden.

An diesem Wochenende wird der Abschnitt zwischen Französischer Strasse und Mohrenstrasse nahe dem Gendarmenmarkt mitten im Herzen der Hauptstadt für Autos gesperrt. Für zwei Tage sollen die Menschen erleben können, wie sich Grossstadt ohne Verkehrslärm, Stau und Benzingeruch anfühlt. Stattdessen gibt es Modenschauen, Musik und Sekt im Freien.

Revolution in der Autostadt Berlin

Was sich recht banal anhört, grenzt in der Autostadt Berlin an eine Revolution. Denn das Auto ist für viele Berliner nach wie vor liebstes Kind, auch wenn sie damit in der Grossstadt oft nur langsam vorankommen. Nun könnte der Test in der Friedrichstrasse zur Blaupause für die Verkehrswende weg vom Auto werden, die der rot-rot-grüne Senat sei drei Jahren propagiert und schrittweise umsetzen will.

«Zurzeit ist die Friedrichstrasse vor allem eines: ungemütlich, laut, nicht wirklich einladend», sagt der Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte und Initiator des Projekts, Stephan von Dassel (Grüne). Viele Menschen in der Stadt wünschten sich «mehr Flächengerechtigkeit», eine besser Aufenthaltsqualität und nachhaltige Mobilität.

Blick auf die Friedrichstrasse am Abend. Zum autofreien Wochenende an der Berliner Friedrichstraße am 5./6. Oktober soll ein buntes Rahmenprogramm Besucher anlocken.
Blick auf die Friedrichstrasse am Abend. Zum autofreien Wochenende an der Berliner Friedrichstraße am 5./6. Oktober soll ein buntes Rahmenprogramm Besucher anlocken.
Bild: Jörg Carstensen/dpa (Archivbild)

Von Dassel plant rund um das verkaufsoffene zweite Adventswochenende bereits die zweite autofreie Phase an der Friedrichstrasse. Und im kommenden Jahr soll unter Mitwirkung der Senatsverkehrsverwaltung ein mehrwöchiger Versuch folgen, der dann wissenschaftlich begleitet wird, um die Auswirkungen etwa auf Strassen und Verkehrsflüsse im Umfeld zu untersuchen.

Die Fussgängerlobby findet das Vorhaben gut und kann sich vorstellen, es auf weitere Strassen auszudehnen. «Es ist zu hoffen, dass das die Friedrichstrasse beleben wird», sagt Roland Stimpel vom Fachverband Fussverkehr in Deutschland. Mehr Flächen zum Verweilen, mehr Sitzmöglichkeiten im Freien, leichterer Zugang zu Geschäften und Restaurants – Stimpel glaubt, dass das auch deren Umsätze ankurbeln könnte.

Denn zuletzt kriselte die Einkaufsmeile, die nach der Wiedervereinigung in neuem Glanz entstand und mit schicken Edelboutiquen sowie dem Luxuskaufhaus Galeries Lafayette dem Kudamm im Westen der Stadt zeitweise den Rang ablief. Heute geben immer wieder Läden auf, die Rede ist von rund 20 Prozent Leerstandsquote.

«Wir sind sehr daran interessiert, die Attraktivität der Friedrichstrasse zu erhöhen», sagt Etienne Galvani von den Galeries Lafayette dazu. «Daher sind wir für vieles offen, was zur positiven Veränderung und Entwicklung des Standortes beitragen kann.» Man sei daher «gespannt», was das autofreie Wochenende, an dem Anlieger ihre Läden auch am Sonntag öffnen dürfen, am Ende bewirke.

Bringen Fussgängerzonen neben sauberer Luft mehr Umsatz? Der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg, Nils Busch-Petersen, sieht darin keinen Automatismus. So gebe es in der Altstadt Spandau Probleme, ein Auf und Ab in der Wilmersdorfer Strasse – beides seit Jahrzehnten grosse Fussgängerzonen.

Ähnliche Projekte auch in anderen Städten

Und überhaupt: «Es ist dilettantisch, auch verkehrspolitisch, wenn einem nichts anderes einfällt, als einzelne Strassenabschnitte zu sperren», findet Busch-Petersen. Anlieger seien zu wenig eingebunden. Ihm fehle ein Gesamtkonzept, die Frage sei, wo der Verkehr denn stattdessen fliessen solle. «Das ist hier nicht Worpswede mit seiner Dorfstrasse», schimpft Busch-Petersen. «Mitte ist ein komplexes System.»

Berlin steht mit dem Bemühen, Fussgängern wie auch Radfahrern mehr Raum zu geben, nicht allein in Deutschland. In Frankfurt/Main etwa wurden Autos im citynahen Teil des nördlichen Mainufers für zunächst ein Jahr ausgesperrt. München hat Mitte 2016 testweise damit begonnen, die Einkaufsmeile Sendlinger Strasse autofrei zu machen. Weitere Altstadtstrassen sollen folgen. Im Hamburger Rathausviertel sind einige Strassen seit Anfang August drei Monate lang für Autos tabu, wobei es Ausnahmen etwa für Lieferverkehr gibt.


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