12'800 KilometerWeltreise in der Heimatstadt – ein Mann läuft ganz New York ab
Von Johannes Schmitt-Tegge, DPA
25.12.2018
In einer Metropole voller Getriebener versucht sich Matt Green am Gegenentwurf: Er läuft ganz New York zu Fuss ab, bis in die hinterste Ecke und zur letzten Brache. Anders als Pilger und Rekordläufer hat er kein höheres Ziel. Matt Green läuft einfach, weil er laufen will.
Um eine fremde Stadt aus der Nähe kennenzulernen, muss man vor allem eines: laufen. Auf Fussmärschen lassen sich Orte entschlüsseln, ihre Strassen, Läden und Bewohner, ihre Geräusche, Gerüche und Geschmäcker. In der Millionenstadt New York ist Matt Green buchstäblich noch weiter gegangen. Er hatte sich vorgenommen, jede Strasse, jeden Weg, jeden Park und jeden öffentlichen Platz der Stadt abzulaufen. Geschätzte Strecke: 12'800 Kilometer, das ist in etwa der Landweg von Berlin bis nach Tokio.
Sieben Jahre ist Green inzwischen unterwegs, jeden Tag kommen ein paar Kilometer und Strassenblocks mehr hinzu. Er schläft bei Freunden auf dem Sofa, mal kümmert er sich im Gegenzug um deren Katzen oder Hunde. Was aus der Langeweile seines Schreibtischjobs als Bauingenieur heraus geboren wurde, hat sich in eine Langzeitstudie über eine Metropole mit 8,5 Millionen Einwohnern verwandelt. Green begegnet Menschen und schüttelt Hände, er entdeckt Pflanzen, macht Fotos und liest die Stadtgeschichte nach. Und er hält alles auf seinem Blog fest. «I'm Just Walkin'», heisst die Website, «Ich laufe einfach.»
Als religiöse oder politische Geste lässt sich das Gehen weit zurückverfolgen. Seit Jahrhunderten pilgern Muslime nach Mekka, Juden nach Jerusalem und Buddhisten nach Tibet. Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi marschierte 1930 im Protest gegen die britische Salzsteuer 400 Kilometer durch Indien. Und über den Jakobsweg, die berühmteste Pilgerstrecke Europas, erreichten vergangenes Jahr mehr als 300'000 Menschen das spanische Santiago de Compostela.
Dazu kommen Dutzende Reisende, die zu Fuss die USA durchqueren oder gleich die ganze Welt. Dave Kunst wurde 1974 als erster Mann bekannt, der die Welt zu Fuss umrundete. Der Kanadier Jean Beliveau war elf Jahre zu Fuss unterwegs, um über 75'000 Kilometer seine Midlife-Crisis zu überwinden und «Frieden und Gewaltfreiheit zum Wohl der Kinder weltweit» zu fördern. Er verschliss 54 Paar Schuhe und kam durch 60 Länder. Andere begaben sich auf sehr lange Fussmärsche, um auf Krebserkrankungen oder Parkinson aufmerksam zu machen.
Aber um so einen höheren Sinn, einen Rekord oder ein konkretes Ziel geht es Green gar nicht. «Ich weiss nicht wirklich, was der Sinn ist», sagt er in der neuen Dokumentation «The World Before Your Feet». Er wolle nach der Aktion weder Stadtführer werden, noch ein Buch schreiben. Green möchte die Stadt entdecken und läuft einfach, weil er laufen will. «Mich faszinieren die Menschen am meisten, die etwas einfach tun, weil sie es tun wollen», sagt er.
Green kennt die vergessenen Schleichwege
Selbst College-Professor Bill Helmreich, der New York bereits von 2008 bis 2012 zu Fuss abging, hatte eher das grosse Ganze und Systematische im Sinn. Green gehe es dagegen um die Einzelteile, sagt Helmreich im Film, um vergessene Schleichwege, totgesagte Bauprojekte oder wo eigentlich der höchste Baum der Stadt zu finden ist. Green entdeckte Kokosnusshälften in Gewässern (vermutlich Teil eines hinduistischen Rituals) und hob Borsten von Strassenreinigungsfahrzeugen auf. Er beschreibe «Herz, Seele und Puls» der Stadt, sagt Helmreich über Green.
Am Ende könnte der womöglich detailreichste Online-Stadtführer stehen, den New York jemals hatte. Denn das Mahnmal für den nach Polizeigewalt gestorbenen Eric Garner oder die Grabsteine von Künstler Jean-Michel Basquiat und Magier Harry Houdini sind auch für New-York-Kenner Spezialwissen. Und wo sonst sind die schätzungsweise 300 offiziellen, privaten und handgefertigten Denkmäler zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 der Stadt katalogisiert?
Greens innerstädtische Weltreise regt dazu an, langsamer zu reisen. Den Kopf in Ruhe dort ankommen zu lassen, wo Flugzeuge, Züge, Busse und Autos den Körper in hohen Tempo hingebracht haben. Für diese Passagiere werde die vorbeirauschende Umwelt unsichtbar, erklärt Green einer Schulklasse. Die Welt zeigt sich bei ihm mit einfachsten Abläufen menschlicher Motorik – Gehen und Stehenbleiben – von einer neuen, alten Seite: «Wenn man läuft, kann man anhalten und sie betrachten.»
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