Kommentar Hört endlich auf, die Trainer wie die Sau durchs Dorf zu treiben

Von Patrick Lämmle

5.7.2021

Der oft kritisierte Gareth Southgate darf mit England weiter vom EM-Titel träumen.
Der oft kritisierte Gareth Southgate darf mit England weiter vom EM-Titel träumen.
Bild: Keystone

Fussball-Trainer brauchen ein dickes Fell. Oft werden sie für Niederlagen verantwortlich gemacht, nur im Erfolgsfall machen sie einen guten Job. Die Momentaufnahme ist oft alles, was zählt. So kann auch aus einem Weltmeister-Coach ganz schnell ein Sündenbock werden.

Von Patrick Lämmle

5.7.2021

Nehmen wir Didier Deschamps. Er führte Frankreich 2018 zum WM-Titel, natürlich erhielt er dafür Lob. In der folgenden Nations League liess man Portugal, Kroatien und Schweden hinter sich: fünf Siege, ein Remis, Gruppensieg und die damit verbundene Qualifikation zum Final-Four-Turnier, das im Oktober stattfindet. Vor der EM begnadigt er Karim Benzema und macht sich damit potenziell angreifbar. Doch der Real-Star liefert und im Team gibt es keine Unruhen.

Frankreich qualifiziert sich an der EM ohne zu glänzen vor Deutschland, Portugal und Ungarn als Gruppenerster für die K.o.-Phase. Im Achtelfinale gegen die Nati setzt es dann in einem aus Schweizer Sicht historischen Spiel eine Niederlage ab. Aus der Traum vom EM-Titel.



Und schon schiessen sie aus allen Rohren. Der in den letzten Jahren wenig erfolgreiche Startrainer José Mourinho wird vielerorts zitiert. Er kritisiert Deschamps für dessen Auswechslungen. Viele Journalisten und Experten sehen in den vielen Systemumstellungen das Problem. Gary Neville meint etwa: «Die Franzosen liefen selbstgefällig auf, aber das System war komplett falsch. Die Spieler hatten keine Ahnung, was sie machen sollten.»

Der Trainer, der bei der WM noch für seine taktischen Kniffe gefeiert wurde, hat nun scheinbar alles falsch gemacht. Mancherorts wird mit Ex-Real-Coach Zinédine Zidane bereits ein potenzieller Nachfolger ins Spiel gebracht.

Frank de Boer zieht die Reissleine

Bondscoach Frank de Boer, inzwischen Ex-Bondscoach, wird vor der EM für seine Systemumstellung scharf kritisiert. Höhepunkt der Kritik: Ein Flugzeug kreist über das Trainingscamp und zieht einen Banner hinter sich her, darauf ist zu lesen: «Frank, wie immer 4-3-3.»

Doch dann begeistert Holland in der Gruppenphase in einem 5-3-2, qualifiziert sich mit dem Punktemaximum für die Achtelfinals. Schon wird die Elftal als Turnierfavorit gehandelt. Dann der Schock im Achtelfinal: Das zuvor so souveräne Holland verliert gegen Tschechien 0:2. An diesem Tag will einfach nichts gelingen. Der Hauptschuldige ist schnell gefunden, Frank de Boer. Schliesslich zieht er die Reissleine und kündigt seinen Job.

Strafen Enrique und Southgate ihre Kritiker Lügen?

0:0 gegen Schweden zum Auftakt, 1:1 gegen Polen. Was wurde die spanische Mannschaft und ihr Trainer nach dem Holperstart kritisiert. Hat Luis Enrique zu hoch gepokert? Kein Spieler von Real Madrid hat es ins Team geschafft, die junge Mannschaft tut sich schwer. Hätte er den vor der EM angeschlagenen Sergio Ramos aufbieten müssen?



In der Beurteilung geht völlig vergessen, wie kompliziert sich die Vorbereitung aufs Turnier aufgrund von Corona-Fällen gestaltete. Doch schliesslich folgt ein 5:0-Sieg gegen die Slowakei, im Achtelfinal schaltet die Furia Roja Kroatien aus (5:3 n.V.) und im Viertelfinal die Schweiz nach Penaltyschiessen. Der Alles-Falsch-Macher steht also mit seinem Team im Halbfinal. Verrückt.

Und Gareth Southgate, der englische Übungsleiter, hat sich gewagt, einen Jadon Sancho in der Gruppenphase auf die Bank zu setzen. Auch Jack Grealish hätten viele gerne öfter gesehen. Andere wohl Phil Foden oder Marcus Rashford. Nun steht England im Halbfinal, hat noch kein einziges Gegentor kassiert und den Viertelfinal gegen die Ukraine 4:0 gewonnen. Ist Southgate wirklich die Fehlbesetzung, als die er dargestellt wurde? Wohl kaum. Aber Achtung: Sollte England gegen Dänemark ausscheiden, so wird der Trainer schon noch zum Sündenbock verkommen.

Und dann hätten wir da noch Vladimir Petkovic

Nach der WM 2018 – und erst recht nach dem «Rauswurf» von Valon Behrami kurze Zeit später – lancierten einige Medien eine regelrechte Hetz-Kampagne gegen den Nati-Coach. Der «Blick» forderte in einem Kommentar: «Treten Sie ab, Herr Petkovic!» Schon damals echauffierte mich das ewige Petkovic-Bashing. Hätte der Verband auf die Mehrheit der Journalisten-Stimmen gehört, Petkovic wäre aus der Nati geprügelt worden.

Auch an dieser EM stand der Chefcoach teils in der Kritik. Nach dem 1:1 gegen Wales glaubten einige zu wissen, dass er Xherdan Shaqiri beim Stand von 1:0 nicht hätte auswechseln dürfen. Nach der Blamage gegen Italien wurde darüber diskutiert, dass er die Mannschaft nicht im Griff hat (Tattoo- und Coiffeur-Gate). Und was nun? Nach dem Aus im EM-Viertelfinal ist man besorgt, dass der Coach seinen Vertrag möglicherweise nicht erfüllen wird und sein Amt schon vor der WM im kommenden Jahr freiwillig zur Verfügung stellt.



Dass wir immer alles besser wissen als die Trainer, die ganz nah an ihren Mannschaften dran sind, das nervt gewaltig. An einer EM oder WM werden immer mehr (grosse) Teams eine Enttäuschung erleben als ein Märchen. Am Ende kann immer nur ein Team gewinnen, das heisst aber noch lange nicht, dass die Trainer der «Verlierer» alles falsch machen. Auch die Tagesform und das nötige Quäntchen Glück entscheiden oft über Siegen oder Fliegen. Das sollte man bei der Beurteilung nicht vergessen.