Nach dem Achtelfinal-Aus bei der EM gegen England tritt DFB-Trainer Joachim Löw zurück. Sein Abschied war überfällig. Mit dem Festhalten am Posten hat er sich keinen Gefallen getan. Ein Kommentar.
Nach dem Achtelfinal-Aus bei der EM gegen England (0:2) folgte noch eine fast demütigendere Erfahrung. Der tief geknickte Löw musste noch der «ARD» ein Interview geben. Zunächst durfte der scheidende Bundestrainer noch seine Gefühlswelt erläutern («eine grosse Enttäuschung»), anschliessend fragte Moderatorin Jessy Wellmer, ob er seinem Team vorwerfe, die «Grosschancen nicht gemacht» zu haben, ehe sie ihn komplett verwirrte: «Wie sagt man? Ende gut, alles gut, oder Ende gut, nicht alles gut?»
Schweiz vs. Spanien live im Kino erleben
Der sensationelle Sieg der Schweizer Nati macht Lust auf mehr.
Sei dabei bei der Live-Übertragung des EM-Viertelfinals zwischen der Schweiz und Spanien. Wir zeigen die Partie am Freitag, 2. Juli 2021, ab 17 Uhr auf der Grossleinwand in ausgewählten blue Cinema Kinos.
Tickets gibt es mit dem blue Cinema Club schon ab 12 CHF, die Anzahl ist beschränkt.
Jetzt Tickets hier sichern
Löw bewahrte wie immer seine Haltung und antwortete: «Wir hätten uns was anderes erhofft». Dazu unterstrich er sein Bedauern für die Fans zu Hause. Es ist auch für ihn ein unwürdiger Abschied. Dabei begann alle so verheissungsvoll: Der Schwabe, der auch in der Schweiz aktiv war, bekam 2004 den Job als Assistent von Jürgen Klinsmann. Gemeinsam feierten sie mit einem nicht von Talent gesegneten Kader an der Heim-WM das «Sommer-Märchen» und wurden Dritte.
Danach übernahm der frühere Stürmer das Team. Es war eine logische Wahl. Während Klinsmann sich vorwiegend in der Rolle als Motivator vortat, arbeitete Löw im Hintergrund akribisch und galt als Gehirn hinter dem Aufbruch. Gleich an seinem ersten grossen Turnier stiess er mit seinem Team in den Final vor. Den Titel bei der EM 2008 holte sich jedoch Spanien. Auch beim WM-Halbfinale 2010 waren die Iberer für das Ausscheiden verantwortlich. Und beim EM-Halbfinale 2012 verhinderten die Italiener einen möglichen Triumph der Deutschen.
Löw bleibt seiner Linie treu – und wird belohnt
Die einheimische Presse schoss sich teils gnadenlos auf ihn ein. Doch Löw liess sich trotz der Rückschläge nicht beirren. Er glaubte immer an eine Entwicklung und sah, wie seine Mannschaft seine Spielphilosophie immer mehr verinnerlichte. Die dominierenden Spanier waren mit ihrem Ballbesitz-Fussball auf dem absteigenden Ast, sein austariertes Team jedoch auf dem Zenit. Im Halbfinale der WM 2014 fertigte Deutschland Gastgeber Brasilien gleich mit 7:1 ab, am Ende musste sich auch Argentinien geschlagen geben. Es war der verdiente Lohn für Löws Prinzipientreue und Glauben in die Spieler, welche durch die gemachten Erfahrungen bereit waren für den Coup.
Es war der verdiente Höhepunkt. Mit einem Rücktritt – analog wie Franz Beckenbauer nach der WM 1990 – hätte er seine Kritiker aus der Heimat für immer verstummen lassen können. Doch der ehrgeizige Löw glaubte noch daran, mehr aus seinem Erbe rausholen zu können. An der EM 2016 scheiterte man an Frankreich – immerhin noch im Halbfinale. Doch sein Nimbus bröckelte. Zu spüren war das an der WM 2018. Nach einer erfolgreichen Qualifikation scheiterte man bereits in der Gruppenphase.
Er habe alles «perfektionieren» und «auf die Spitze treiben wollen», musste auch Löw eingestehen und meinte sogar, einige seiner Fehler seien «fast schon arrogant» gewesen. Doch Löw war zu stolz, nach der stolzen Serie (fünfmal mindestens im Halbfinal bei grossen Turnieren) so abzutreten und gelobte Besserung. Mit einem Umbruch wollte er dem Kader neue Energie verschaffen – und verbannte die verdienten Kräfte Thomas Müller, Mats Hummels und Jérôme Boateng. Die erhoffte Wirkung blieb aus.
Der schleichende Niedergang trübt das Gesamtbild
Die Auftritte bei den beiden Nations-League-Turnieren waren teilweise besorgniserregend. Den Tiefpunkt erreichte man, als die Deutschen gegen Spanien im November 2020 gleich mit 0:6 untergingen. So hoch hat eine DFB-Auswahl in einem Pflichtspiel zuvor nie verloren. Die Kritik im Land, wo «82 Millionen Bundestrainer» (Zitat Leon Goretzka) leben, war dementsprechend scharf. #löwraus trendete bei Twitter.
So schien auch eine Entlassung – früher undenkbar – im Bereich des Möglichen. In der Not warf Löw seine Prinzipien über Bord. Statt des immer propagierten Neuaufbaus im Hinblick auf die Heim-EM 2024 holte er zwei der drei Aussortierten zurück. Wenig später kündigte er seinen Rückzug nach der EM 2021 an. Seine Aura hat er dabei schon zuvor verloren – die Spieler strahlten nicht mehr die gleiche Zuversicht aus. Statt einem Befreiungsschlag folgte nun das logische Aus.
Die Turnierbilanz von Rekord-Bundestrainer Jogi Löw
- EM 2008: Final (Platz 2)
- WM 2010: Platz 3
- EM 2012: Halbfinal
- WM 2014: Weltmeister
- EM 2016: Halbfinal
- Confederations Cup 2017: Sieger
- WM 2018: Vorrunden-Aus
- EM 2021: Achtelfinal
Dass ausgerechnet Müller mit seiner verpassten Ausgleichschance gegen England zum Symbol seines Untergangs wurde, passt natürlich ins Bild. Seit 15 Jahren war Löw Trainer der Deutschen. Kein anderer Berufskollege kann im Nationalteam eine so lange Amtszeit vorweisen. Doch mit den letzten beiden Turnieren beschädigte der 61-Jährige sein Gesamtwerk.
Statt als Weltmeistercoach werden ihn nun viele als einen Mann in Erinnerung behalten, dessen Ehrgeiz und Gier nach Siegen seinen einst so unfehlbaren Instinkt im Stich überschatteten. Immerhin teilt er sich das Schicksal mit vielen grossen Männern. Nun darf sich mit Hansi Flick sein früherer Assistent in der schwierigen Rolle versuchen. Löw sollte ihm Vorbild und Mahnmal zugleich sein.