Cristiano Ronaldo hat sich mit einem TV-Interview schon vor der WM in den Fokus gerückt. Welche Rolle der 37-Jährige im Ensemble der Portugiesen haben soll – darüber gehen die Meinungen auseinander.
Natürlich ist er Gesprächsthema Nummer 1 in Portugal. Natürlich haben es alle gesehen und gehört, was Cristiano Ronaldo in einem Interview mit dem britischen Journalisten Piers Morgan auf «Talk TV» über seinen Arbeitgeber Manchester United gesagt hat, über Trainer Erik ten Hag, darüber, wie er sich ungerecht behandelt und gar «betrogen» fühlt von einem Klub, zu dem er vor einem Jahr zurückgekehrt ist in der Hoffnung, an die guten alten Zeiten anknüpfen zu können.
Freilich ist der Zeitpunkt dieses zweiteiligen Interviews, das mittlerweile vollständig veröffentlicht wurde, nicht zufällig gewählt. Es ist vielmehr perfekt getimt – nach dem Ende der Meisterschaften und vor der WM in Katar. Cristiano Ronaldo und Piers Morgan sind sich bewusst, welch mediales Echo sie auf der ganzen Welt auslösen können, wenn eine der grössten Figuren des Fussballs ein negatives Licht auf einen Weltklub wie Manchester United wirft.
Zeit bei ManUtd scheint vorbei
Böse Zungen könnten behaupten, dass so immerhin über den Portugiesen gesprochen wird. Denn in seiner Kerndisziplin auf dem Fussballfeld gab er zuletzt wenig Anlass dazu. In zehn Einsätzen für Manchester United in der Premier League hat der 37-Jährige in dieser Saison einmal getroffen, in der Europa League kommen in sechs Partien zwei Treffer dazu. Ronaldo fehlte aber auch schon suspendiert, weil er gegen Tottenham eine Einwechslung in der Schlussphase verweigert hatte.
War die Beziehung zwischen ihm und den «Red Devils» bis anhin kompliziert, dürfte sie nach Ronaldos öffentlichem Rundumschlag irreparabel sein. Trainer ten Hag liess jedenfalls bereits verlauten, dass er nicht wolle, dass der fünffache Weltfussballer noch einmal für Manchester United auflaufe.
Ronaldo dürfte nicht unfroh sein, liegt der Fokus nun nicht auf Klubfussball, sondern den Nationalteams. In der Seleção ist er Rekordnationalspieler und Rekordtorschütze, er ist der Spieler, der Portugal 2016 in Frankreich zum EM-Titel geführt hat – obwohl er im Final in Paris nach einer frühen Verletzung nur noch als engagierter Taktgeber und Gestikulierer von der Seitenlinie fungieren konnte. Trägt Ronaldo das Shirt der Nationalmannschaft, brandet ihm unbändige Liebe und Wertschätzung entgegen, die er in den Klubs nicht immer erfährt. Das hat sich, seit er 2003 als 18-Jähriger sein Debüt für die Landesauswahl gefeiert hat, nicht geändert.
Santos’ Optimismus
Und doch ist bei Portugiesinnen und Portugiesen im Vorfeld der Endrunde in Katar eine Debatte im Gang darüber, welche Rolle Ronaldo im Ensemble von Fernando Santos zuteilwerden soll. Es gibt Stimmen, die sich für einen Generationenwechsel aussprechen. Dafür, dass Ronaldo, aber auch João Moutinho (36) und Pepe (39) Platz machen sollten für die Jüngeren. Für Bernardo Silva, João Cancelo, Ruben Dias, Bruno Fernandes, Ruben Neves, João Felix und Rafael Leão.
Das Potenzial dieser Mannschaft ist gross, die nächste goldene Generation bereit. Am Donnerstag gab es für Portugal im letzten WM-Test gegen das nicht qualifizierte Nigeria einen 4:0-Sieg – ohne Ronaldo. Trainer Santos hatte schon vor dem Match angekündigt, seinen Superstar zu schonen.
Die Challenge besteht wie so oft darin, aus Talenten eine Mannschaft zu formen. Beim EM-Triumph gelang das Santos offensichtlich ganz gut, aber an Weltmeisterschaften blieben die Portugiesen seit dem 4. Platz in Deutschland 2006 mit zwei Achtelfinal-Qualifikationen unter den Erwartungen. Dem 68-jährigen Santos wird trotz seiner Erfolge – neben dem EM-Pokal 2016 gewann er auch die Nations League 2019 – vorgeworfen, er handle zu konservativ und sei nicht der Richtige, der das Talent aus seinen Spielern herauskitzeln könne, weshalb sich einige den Generationenwechsel auch auf der Trainerbank gewünscht hätten.
Doch für allfällige Retuschen und Verjüngungskuren im Kader ist es jetzt zu spät. «Ich habe noch eine Trophäe zu gewinnen. Das Beste kommt erst noch», sagte Santos und versprühte damit einen Optimismus, den wohl nur die wenigsten mit ihm teilen werden. Die Gruppe zu überstehen ist Pflicht, der Gruppensieg auch, um einem wahrscheinlichen Achtelfinal-Duell mit Rekordweltmeister Brasilien aus dem Weg zu gehen.
Lässt Portugal sowohl Uruguay als auch die Aussenseiter Ghana und Südkorea hinter sich, könnte ein Duell mit der Schweiz bevorstehen. Scheitern die Portugiesen aber schon früh, würde die Kritik laut. So laut, dass sich wohl selbst Cristiano Ronaldo nicht so bereitwillig vor die TV-Kameras begeben würde.