Elena Quirici «Ich wollte mich gegen meine Brüder wehren und ihnen notfalls auf den ‹Deckel› geben können»

Von Richard Stoffel

1.7.2021

Karateka Elena Quirici: «Es war eine mentale Achterbahnfahrt»

Karateka Elena Quirici: «Es war eine mentale Achterbahnfahrt»

Die Schweizer Karateka Elena Quirici spricht mit «blue Sport» über die «einmalige Chance», an den anstehenden Olympischen Spielen in Tokio teilzunehmen. Gleichzeitig blickt sie zurück auf ein schwieriges letztes Jahr.

20.07.2021

Elena Quirici nimmt nach einer Achterbahnfahrt Kurs Richtung Olympische Spiele. Wir haben die Karateka auf ihrer «Road to Tokyo» besucht und beleuchten heute eine Sportart, die in der Schweiz ein Schattendasein fristet.

Von Richard Stoffel

1.7.2021

Quirici meisterte ein Nervenspiel der extremen Art für ihr Olympia-Ticket. Wegen der Verschiebung der Spiele um ein Jahr musste sich die 27-jährige Aargauerin ein zweites Mal qualifizieren, um in Tokio startberechtigt zu sein.

Auch besass Quirici die Gewissheit, dass ihr Sport bereits 2024 in Paris nicht mehr olympisch sein wird. Dass sie sich ihren Olympia-Traum also bestenfalls nur einmal im Leben in ihrem Sport erfüllen kann. Diesem gewaltigen Druck hielt sie stand.

«Ich spielte mit dem Gedanken, alles hinzuschmeissen»

«Es war eine mentale Achterbahn. Ich hatte zunächst eine Riesenfreude in mir, als ich im Mai 2020 die Bestätigung für die Olympia-Qualifikation vom Weltverband schriftlich zugestellt erhielt. Zwei Wochen später kam dann aber der Schock. Es hiess, die Qualifikation sei aufgelöst worden. Ich war in Rage und traurig, spielte gar mit dem Gedanken, alles hinzuschmeissen», erzählt Quirici gegenüber «blue Sport».

Nach ein, zwei Monaten fing sie sich aber und richtete den Fokus neu aus. «Ich nahm mir die Zeit wütend zu sein, machte dann aber den Schnitt mit dem klaren Ziel vor Augen.» Es galt, die Qualifikation nochmals zu schaffen und «alle Nebengeräusche auszublenden». Nach dem frühzeitigen EM-Ausscheiden hielt die Europameisterin von 2016 und 2018 im allerletzten Qualifikationsturnier in Paris Mitte Juni dem immensen Druck mit einer fast makellosen Performance stand.

«Road to Tokyo» – die Serie von blue Sport
Die Olympischen Sommerspiele sollen vom 23. Juli bis zum 8. August 2021 in Tokio stattfinden.

Für viele Sportlerinnen und Sportler bilden die Olympischen Spiele den Höhepunkt der Karriere. Während etwa die weltbesten Tennisspieler und Fussballer permanent im Rampenlicht stehen, bietet sich vielen Athletinnen und Athleten nur alle vier Jahre die Gelegenheit, sich der breiten Masse zu präsentieren. Im Rahmen der Serie «Road to Tokyo» besucht «blue Sport» Fechter, Ringer oder Karate-Kämpferinnen und wirft einen Blick hinter die Kulissen in einer Zeit, in der so vieles ungewiss ist. So auch die Frage, ob die Spiele letztlich überhaupt stattfinden.

Quirici wird nun am 7. August 2021, also am vorletzten Tag der Spiele, in der Kategorie über 61 kg in einem Zehner-Feld kämpfen. In der Vorrunde ermitteln je fünf Kämpferinnen in zwei Gruppen die Halbfinalistinnen. Die Top 2 jeder Gruppe erreichen die Halbfinals. Gegen fünf Teilnehmerinnen aus diesem 10er-Feld hat sie schon gekämpft. Und auch schon bis auf eine Chinesin vier Mitstreiterinnen von Tokio mindestens einmal besiegt, auf die restlichen vier Kämpferinnen ist sie noch nie getroffen. Auch, weil für Tokio Gewichtsklassen zusammengeführt wurden, das Nadelöhr der Olympia-Qualifikation unerbittlich eng war.

Fast alle Rituale aufgegeben

Ihren Wettkampftag will die bereits seit Juni vollständig geimpfte Quirici möglichst unbefangen angehen. «Früher besass ich zahlreiche Rituale. Die habe ich fast alle aufgegeben. Wichtiger ist mir nun, gut zu essen und gut zu schlafen.»

Den letzten Schliff in der Olympia-Vorbereitung holt sich Quirici in Griechenland und auf Gran Canaria, aber auch im heimischen Bad Schinznach-Dorf. Dort ist sie in einem Gebäude innerhalb einer Postauto-Garage eingemietet. Es handelt sich um einen kleinen Raum mit vielen Pokalen im Fensterbereich, einigen Trainings-Utensilien wie Pratzen für die Schlagschule sowie einem gerade noch ausreichend grossen Tatami fürs Sparring.

Freund als Hauptsparringspartner

Im Alter von nur vier Jahren begann Quirici bereits mit Karate. «Ich wollte fähig sein, mich gegen meine beiden älteren Brüder zu wehren und ihnen notfalls auf den ‹Deckel› geben, auch wenn sie ebenfalls Karate machten.» Es entwickelte sich eine Leidenschaft, die bei Quirici bis heute anhält. «Ich liebe diesen vielseitigen Sport über alles. Man muss sowohl schnell als auch ausdauernd sein. Kein einziger Kampf ist identisch. Diese Abwechslung fasziniert mich. Deshalb fällt es mir auch nicht schwer, mich nach Rückschlägen neu zu motivieren.»

Elena Quirici (links) während eines Kampfs gegen die Französin Alizee Agier.
Elena Quirici (links) während eines Kampfs gegen die Französin Alizee Agier.
Bild: Getty

An einer Heim-EM in der Schweiz wirkte Quirici vor ein paar Jahren als Medaillen-Übergeberin. Dies weckte ihren Willen für noch mehr Commitment. Sie widmete sich immer intensiver ihrem Kampfsport. Beendete ihre Sport-KV-Lehre an der United School of Zurich. Arbeitete dann zunächst Teilzeit, reduzierte ihr Arbeitspensum zugunsten ihres Kampfsports aber kontinuierlich weiter. Bis die Absolventin der Spitzensport-RS per 2018 und mit Beginn der Olympia-Qualifikation den Vollprofi-Status erreichte. Rasch führte dies zu einer noch höheren Konstanz an Top-Resultaten. 2019 stand sie beispielsweise in neun von zwölf Weltcups auf dem Podest.

Unterschiede zwischen Karate und Taekwondo
Manuela Bezzola of Switzerland, left, fights against Zeliha Agris of Turkey, right, during the quarter final of the Seniors Female A - 53kg at the European Taekwondo Championships in Montreux, Switzerland, Friday, May 20, 2016. (KEYSTONE/Jean-Christophe Bott)
Manuela Bezzola (links).

Die Seeländerin Manuela Bezzola hatte im koreanischen Karate Taekwondo vor 13 Jahren in Peking als bislang einzige Sportlerin die Schweiz olympisch in einer Karate-Richtung vertreten. Für Quirici ist Bezzola kein Begriff und sie stellt klar: «Das sind für mich als Kampfsportlerin zwei verschiedene Sportarten, alleine schon von der Philosophie her. Im Karate muss man mindestens sechs Kriterien erfüllen, um einen Punkt zu erhalten. Karate ist nicht so extrem auf Beintechniken fixiert, sondern kennt auch noch Fausttechniken und Würfe. Beim Taekwondo geht es mehr darum, den Gegner zu treffen – egal wie.»

Entsprechend professionell ist Quirici aufgestellt: Dave Baumann ist ihr Karatetrainer, dazu hat sie noch einen Athletik- sowie einen Mentalcoach. Doch der wichtigste Mann im Leben der Aargauer Sportlerin des Jahres 2019 ist seit drei Jahren ihr spanischer Freund Raul Cuerva Mora, der selbst ein Weltklasse-Karateka ist. In den zahlreichen Monaten der Corona-Pandemie konnte sie dank ihres Freundes das ansonsten nicht möglich gewesene Zweikampf-Training fortsetzen. Auch heute ist Raul Cuerva Mora weiterhin eine Schlüsselfigur in der Olympia-Vorbereitung: «Er weiss, wie er mich am besten fordern kann», sagt Quirici.

Sozial engagiert in der Pandemie

Während der Corona-Pandemie machte sich Quirici Gedanken über ihre soziale Verantwortung – und wurde auch neben dem Tatami aktiv. «Ich sah die Not der Menschen. Ich wollte helfen, nicht nur trainieren ohne Wettkampf in Sicht. Ich fing an, Flyer zu verteilen und bot da meine Hilfe fürs Einkaufen an.» Zudem machte sie für die Spitex Auslieferungen. Rückblickend hält sie fest: «Es erfüllte mich sehr, dass ich etwas zurückgeben und helfen konnte.»