Es war DER Moment der ersten Turnierhälfte: Die Fans flippten aus, der Lärmpegel lag so hoch wie einst bei Siegen Federers, und Stan Wawrinka drückte nach dem Sieg über Casper Ruud Tränen weg.
Stan Wawrinka versöhnte sich am Dienstagabend mit den Swiss Indoors. In Basel stand Wawrinka noch mehr im Schatten von Roger Federer als anderswo. In Basel gelang dem Waadtländer wenig. Selbst als er die Nummer 3 der Welt und die Nummer 1 der Swiss Indoors war, vermochte er keine Akzente zu setzen. Vor Jahren verzichtete er sogar aus freien Stücken aufs Heimturnier und spielte stattdessen in Valencia.
«Stan the Man» stand in Basel noch nie im Final. Acht seiner ersten 14 Teilnahmen endeten in der Startrunde. Gegen Casper Ruud, die Nummer 3 der Welt, gelang ihm indes eine nahezu perfekte Leistung. Am Ende wurde Wawrinka von den Gefühlen übermannt: «Das weckt so viele Emotionen. Dass ich trotz meines Alters (37) und trotz all der Verletzungen (zwei Fussoperationen 2021) so gut spielte und jetzt gefeiert werde, bedeutet mir alles. Denn für euch, für die Zuschauer und die Fans, spiele ich noch.»
Wawrinkas Essay
Im Herbst seiner Karriere gewährt Stan Wawrinka viel mehr Einblicke in seine Gefühlswelt als in den letzten 20 Jahren. «Ich hätte an den Swiss Indoors immer gern gut gespielt», erzählte er am Dienstag den Zuschauern in der Halle. «Aber das ist nicht immer so einfach. Oftmals war ich in Basel hypernervös. Oder ich spürte den Druck.»
Einen sehr persönlichen Einblick gewährte Stan Wawrinka schon im Sommer, unmittelbar vor Wimbledon. Für die Players Tribune schrieb er brutal ehrlich über seine Karriere – über Höhen und Tiefen. Vor einem Jahr machte sich Wawrinka Gedanken über den Rücktritt.
Ein Auszug: «2021 musste ich mich am Fuss wieder operieren lassen. Und dann nochmals. Diesmal hatte ich mehr Zweifel als nach der ersten Verletzung (Knie/2017) ... Die zweite Operation im Juni – und im Dezember konnte ich immer noch nicht richtig gehen ... Du beschäftigst dich mit all diesen unkomfortablen Fakten, und jeder Fakt wirft eine neue Frage auf: Du kannst immer noch nicht gehen. Wann kann ich wieder rennen? Dir wird klar, du wirst nie wieder so gut, wie du mal warst. Macht es wirklich Sinn, weiterzumachen?»
Wawrinka schreibt in seinem Essay auch, wie er für sich die Antworten fand. Im Sommer im Queen's Club besiegte er Frances Tiafoe in 2:47 Stunden 7:6, 6:7, 7:6. «Zwei Tage später fühlte ich jedes meiner 37 Jahre. Die Beine schmerzten. Mental fühlte ich mich leer. Der Körper fühlte sich komplett ausgelaugt an. Und alles, was ich wollte, war das nächste Match zu spielen!»
Wieder mit Norman
Sportlich sieht Wawrinka Ende Oktober 2022 Licht am Ende des Tunnels. Erst Ende März kehrte der Schweizer auf die ATP-Tour zurück. Es setzte vor allem Niederlagen ab. Im Ranking belegt Wawrinka nach 13 Turnieren immer noch nur Platz 194. Aber vor einem Monat in Metz feierte er fünf Siege hintereinander, besiegte Daniil Medwedew und erreichte erstmals wieder einen Halbfinal. In Basel gegen Casper Ruud gelang ihm die beste Leistung seit drei Jahren – seit dem Sieg am US Open 2019 über Novak Djokovic –, und ausserdem konnte er verkünden, dass er wieder mit Coach Magnus Norman trainiert, dem Schweden, der ihn ab 2013 in seine besten Jahre begleitete.
Der Titel von Wawrinkas Essay lautete: Ein letztes Kapitel. Diesen Abschluss, der die nächsten zwei, vielleicht drei Jahre umfassen soll, will der Waadtländer wieder mit Magnus Norman zusammen schreiben. Dass der Schwede mitmacht, ist ein starkes Zeichen für Wawrinka: Wenn ihm der Coach das erfolgreiche Comeback nicht zutraute, dann hätte er nicht zugesagt, ihn die nächsten Monate zu begleiten.
Wawrinka gewann in relativ fortgeschrittenem Alter drei Grand-Slam-Turniere: das Australian Open 2014 (mit 29), das French Open 2015 (mit 30) und das US Open 2016 (mit 31). Das ist in der gleichen Ära mit Nadal, Federer und Djokovic eine starke Leistung. Gegen jede andere Spielergeneration hätte Wawrinka mehr Titel geholt.
Ein Turniersieg
Irgendein Titel, irgendein Turniersieg – das ist Wawrinkas letztes grosses Ziel. Er möchte nochmals ein ATP-Turnier gewinnen, und es muss nicht gleich nochmals ein Major sein. «Mein Spielniveau ist mittlerweile wieder recht hoch», stellte Wawrinka in Basel fest. Eigentlich rechnete er damit, erst 2023 wieder gut in Form zu kommen. «Die Schwierigkeit ist, in den Matches immer alles zusammenzubringen. Es geht um Konstanz.»
Am Donnerstag kann Wawrinka den Effort gegen Ruud gegen den jungen Amerikaner Brendon Nakashima (ATP 44) bestätigen. «Das 6:4, 6:4 gegen Ruud garantiert dir nicht, dass du zwei Tage später auch wieder sehr gut spielst», weiss Wawrinka. Sicher ist aber: Die 8600 Zuschauer in der ausverkauften St. Jakobshalle werden «Stan the Man» so gut helfen, wie sie nur können. Auf dass Stans neue Liebe mit Basel nicht so schnell wieder verglüht.