Jahresrückblick Von der erlösenden E-Mail bis zur totalen Ernüchterung – der Wimbledon-Final 2019

Von Luca Betschart

27.12.2019

Lieferten sich einen epischen Wimbledon-Final: Novak Djokovic und Roger Federer.
Lieferten sich einen epischen Wimbledon-Final: Novak Djokovic und Roger Federer.
Bild: Getty

Im Juli wurde mir die Ehre zuteil, erstmals von einem Grand-Slam-Turnier vor Ort berichten zu dürfen. Ich erlebe hautnah mit, wie Roger Federer am neunten Wimbledon-Triumph schnuppert ... und dramatisch scheitert. Es ist eine Premiere wie aus dem Bilderbuch – bis zum Matchball. 

Wir schreiben den 14. Juli 2019, Sonntagmorgen, 10:00 Uhr. Im liebevoll gepflegten Vorgarten meiner Gastgeber, Judy und Joe, gönne ich mir im Südwesten Londons ein ausgiebiges Frühstuck – im Wissen, dass energieraubende Stunden bevorstehen. Nur: Was mir und 14'999 anderen Zuschauern tatsächlich blüht, ahnt zu diesem Zeitpunkt keine Menschenseele.

Kurz vor 11 Uhr mache ich mich auf den Weg in Richtung «All England Club». Ich komme zunächst nicht sehr weit. An der ersten Verzweigung mache ich Halt. Mir fällt ein, wie Judy am Freitag vom Postboten erfahren haben will, dass die Federers gleich um die Ecke in einer Villa wohnen. Ich könnte einen kleinen Umweg in Kauf nehmen, vielleicht seh ich die Kinder in der Einfahrt beim Garagentor-Tennis. Oder Mirka, die gerade den Rasen mäht. Oder Roger!

Ich entscheide, dass dies nicht der Moment dazu ist und ringe mich durch, links abzubiegen und Kurs auf die Anlage zu nehmen – genau wie an den zwölf Turniertagen zuvor. Das hat sich bis anhin ja ohnehin bewährt: Rekordsieger Federer lässt seinen Kontrahenten auf dem Weg in den Wimbledon-Final auch mit 37 Jahren keinen Stich und entfacht bei mir eine Euphorie, die von Runde zu Runde grösser wird und in der perfekten Halbfinal-Affiche zu gipfeln scheint. 

Das Warten auf eine E-Mail

Wimbledon, Grand-Slam-Halbfinal, Federer gegen Nadal – und ich bin dabei. Besser geht nicht! Deshalb sage ich mir bereits vor der Partie: «Alles, was jetzt noch kommt, ist Zugabe.» Nicht so Titeljäger Federer. Er putzt Rafael Nadal in vier Sätzen vom Centre Court und sorgt so dafür, dass ich für das grosse Endspiel der «All England Championships» Zutritt zu den Tribünen des Centre Courts habe – oder haben sollte.



Als ich dann am Sonntag zwei Stunden vor Spielbeginn noch immer auf die Einlassbestätigung warte, beginnt das grosse Zittern. Und als ich schon Trübsal blase, flattert die erlösende E-Mail doch noch rein. «Hello there. You've been allocated a seat for the Gentlemen's final this afternoon, please come and see us at the main press reception.» Wahnsinn!

Die Nervosität steigt. Mit Laptop und einer grossen Trinkflasche ausgestattet verschiebe ich ins Stadion. Während ich meinen zugeteilten Platz suche, betreten die beiden Hauptdarsteller bereits den Court – und sorgen bei mir zum ersten Mal für Gänsehaut. Los geht's!

Das Drama beginnt

Erwartungsgemäss begegnen sich Federer und Djokovic auf Augenhöhe. Vom ersten Punkt an ist die Spannung auf dem Centre Court greifbar. Auch wenn der Schweizer den ersten Satz nach einer 5:3-Führung im Tiebreak noch abgibt, bin ich positiv überrascht. Denn der 37-Jährige macht den besseren Eindruck und kann dem Titelverteidiger auch in längeren Ballwechseln Paroli bieten. Oder habe ich einfach die «Federer-Brille» auf?

Prompt liefert der 20-fache Grand-Slam-Sieger die perfekte Antwort auf den Rückstand und spielt seinen Kontrahenten im zweiten Satz schwindlig. Der Satzausgleich ist im Eiltempo bewerkstelligt, der Traum vom neunten Wimbledon-Triumph lebt mehr denn je – auch auf Platz 188, Reihe K der Medien-Tribüne.

Eine knappe Stunde später folgt die Ernüchterung. Nach einem abgewehrten Satzball holt sich Djokovic den dritten Satz im Tiebreak, ohne der bessere Spieler gewesen zu sein. Erstmals überhaupt macht sich mein Sitznachbar bemerkbar, als er sich nach dem verwerteten Satzball kurz erhebt und die Faust ballt – und mir so, neben seiner wahrscheinlichen Herkunft, die hohe Bedeutung der 2:1-Satzführung bewusst macht. Ich zweifle, dass es heute für Federer gut endet und spüle den Frust mit dem letzten Schluck Wasser runter. Flasche leer. 

Das Warten auf die Erlösung

Flasche voll dagegen beim Schweizer Protagonisten. Der scheint jetzt erst richtig angestachelt und spielt im vierten Satz gross auf. Mit zwei Servicedurchbrüchen zwingt er den Serben in den Entscheidungssatz und reisst die traditionell eher zurückhaltenden Zuschauer von den Sitzen – selbst im Mediensektor. 

Die brodelnde Atmosphäre erinnert inzwischen mehr an eine andere Rasen-Sportart – wohl auch der einseitigen Verteilung der Sympathien geschuldet. Das Drama nimmt seinen Lauf. Im zweistündigen Entscheidungssatz macht Federer erst einen 2:4-Rückstand wett und serviert beim Stand von 8:7 tatsächlich zum Titel. Ein Zwischenruf beim vorangehenden Seitenwechsel spricht mir aus dem Herzen: «Chum eze Roger, mach fertig!» Ohnehin sollte ich langsam auf die Toilette, von der unzumutbaren nervlichen Belastung abgesehen. 

Federer geht mit 40:15 in Führung und ich bin mir zum ersten Mal an diesem Sonntag sicher: «Er hat es.» Auf die Erlösung warte ich an diesem aber Tag vergeblich. Wenn auch nur um wenige Zentimeter – das macht es im Moment aber nur noch schmerzhafter. Nach zwei vergebenen Matchbällen kassiert Federer das Rebreak. Es wird plötzlich ruhig auf dem Centre Court. Ich glaube, die Fassungslosigkeit in den Gesichtern der Zuschauer zu erkennen. Wie ich wohl aussehe?

Schlüsselmoment 4: Die taktische falsche Entscheidung

Schlüsselmoment 4: Die taktische falsche Entscheidung

Federer sagt nach dem Spiel selbst, dass er beim zweiten Matchball hätte Serve and Volley spielen sollen – für einmal ein taktischer Fehlentscheid des Schweizers.

14.07.2019

Der Traum platzt

Wenig später verliert der Schweizer auch das dritte Tiebreak des Tages – und nach fünf turbulenten Stunden die Partie. Aus und vorbei, Federers Traum vom neunten Wimbledon-Triumph ist geplatzt. Und so sehr ich mich im dritten Satz auch auf ein solches Szenario vorbereitet habe: Die Niederlage nach diesem Spielverlauf katapultiert mich in ein tiefes emotionales Loch, aus dem ich erst nach Tagen wieder herausfinde.



Ich frage mich, wie lange das den Maestro selbst fuchsen wird. Und auch, wieso mir das Ganze so nahe geht. Die Antwort ist simpel, auch wenn die Geschichte kein Happy-End hat: Dieses Spiel fesselt mich bis zum heutigen Tag. Genau wie die Faszination für diesen Sport.



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