Jahresrückblick Für alle Sportler, die nicht permanent im Rampenlicht stehen

Von René Weder

24.12.2019

Jérémy Desplanches: Arbeitet hart für überschaubare Resonanz.
Jérémy Desplanches: Arbeitet hart für überschaubare Resonanz.
Bild: Keystone

80 Prozent der Sportberichterstattung wird von 20 Prozent der Sportarten abgedeckt. Das soll hier und heute anders sein.

Dieser Teil unseres Jahresrückblicks ist allen SportlerInnen gewidmet, die nicht permanent im Rampenlicht stehen. Die für ihre Aufopferung zu wenig Aufmerksamkeit und letztlich vergleichsweise auch zu wenig Geld erhalten. Die einsam und fernab des Rampenlichts Kilometer fressen, Gewichte stemmen und sich schinden. Für den einen kurzen Augenblick, an dem sie scheinen, um dann wieder – zumindest vorübergehend – in der Versenkung zu verschwinden.

«Geh schwimmen», pflegen mich die fussballverrückten Kollegen auf der Redaktion abzukanzeln, wenn ich ihnen mal wieder zu erklären versuche, dass viele Sportarten ausserhalb der «Big Five» (Fussball, Tennis, Eishockey, Ski und Motorsport) zu wenig Platz in der öffentlichen Wahrnehmung bekommen. Ich habe es akzeptiert. Nicht nur, weil ich in meiner Funktion selbst mit dafür verantwortlich bin, dass wir nicht Nischen, sondern eben die Masse bedienen. Teilweise aus wirtschaftlichen Gründen. Gewiss aber auch, weil die grossen Sportarten mit ihren langen Saisons eben mehr Stoff für Geschichten liefern und Platz für Identifikation und Emotionen schaffen.

Und plötzlich geht die Post ab

Eine seltene Ausnahme bildete im sich dem Ende neigenden Jahr der 25. Juli. In Südkorea läuft gerade die Schwimm-WM (wer weiss noch wo genau?) und erfreut sich eines mässigen Interesses. Zwar liegen die Übertragungszeiten am mitteleuropäischen Nachmittag nicht schlecht, die Konkurrenz am TV ist dann überschaubar. Und der Fussball macht mehrheitlich Pause. Dennoch interessieren bis zum Rennen über 200 Meter Lagen zumeist nicht etwa die Leistungen und Siegerzeiten, sondern der chinesische Skandalschwimmer Sun Yang, der seine Dopingprobe mit einem Hammer zertrümmerte und an der Siegerehrung deshalb meist alleine feiert, weil ihm seine Konkurrenten die Gratulationen verweigern.

Doch dann kommt der grosse Moment von Jérémy Desplanches. Erstaunt stelle ich fest, dass während dessen 1:56,56-minütigen Schwimmzeit mehr Kollegen an den grossen Bildschirmen im Büro kleben, als während eines Champions-League-Abends. Es wird mitgefiebert, ja sogar angefeuert – und am Ende gejubelt. Das Rennen verläuft dramatisch. 42 Hundertstel nach Sieger Daiya Seto (JPN) und 22 Hundertstel vor Chase Kalisz (USA) wuchtet sich Desplanches ins Ziel. Edelmetall für die Schweiz an einer Schwimm-WM, darauf mussten wir zwölf lange Jahre warten.


So erlebten die Tessiner Kollegen den Ausgang des Rennens in der Kommentatoren-Box.


Wenige Monate später muss ich feststellen, dass 95 Prozent meiner Arbeitskollegen bereits vergessen haben, ob Desplanches seine Silbermedaille nun über 400 Meter Freistil, 200 Meter Lagen oder 100 Meter Hundeschwumm gewonnen hat. Die meisten scheitern bei der dritten Frage in unserem Sportquiz kläglich – oder sind zumindest verunsichert. In ihren Köpfen dreht sich längst alles wieder um Fussball, Tennis und Eishockey. Wie gesagt, ich habe es akzeptiert. Aber ich habe Hoffnung für den 31. Juli 2020 – wenn Desplanches in Tokio hoffentlich um die Medaillen schwimmen wird. Genau wie so viele andere Athletinnen und Athleten wird er genau eine Möglichkeit haben, um abzuliefern und sich zumindest ein kleines Stück vom Ruhm abzuholen, der ihm zusteht. 


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