Jahresrückblick Meine schizophrene Beziehung zu Hundertstel-Krimis

Von Patrick Lämmle

23.12.2019

Im Sport können Hundertstel-Sekunden alles verändern.
Im Sport können Hundertstel-Sekunden alles verändern.
Bild: Keystone

Im Ski-Sport und der Leichtathletik entscheiden oft Hundertstelsekunden über Erfolg oder Nicht-Erfolg. Aber sicher nicht im Eishockey. An der WM wurde ich – auf die harte Tour – eines Besseren belehrt.

Als Beat Feuz an der Ski-WM in Are in der Abfahrt das Podest als Vierter um elf Hundertstel verpasste, da hab ich das ähnlich stoisch wie der Fahrer selbst hingenommen. Natürlich wünschte ich mir, dass der Kugelblitz aufs Podest rast, denn er ist einfach, wie wir im Büro zu sagen pflegen, ein «geiler Güggel». Doch es sollte halt nicht sein.

Ganz anders bei Corinne Suter, die nach dem Super-G als Dritte vom Podest strahlte, weil sie zwei Hundertstel schneller den Berg runterraste als die im vierten Rang klassierte Viktoria Rebensburg. Dass ihr nur fünf Hundertstel zum Sieg fehlten, kümmerte mich nicht weiter. Hauptsache Edelmetall.

Auch Mujinga Kambundji ist bei ihrem historischen Bronze-Lauf, als erste Schweizer Sprinterin überhaupt holte sie eine WM-Medaille, nur einen Bruchteil schneller als die Viertklassierte. Bei einem 200-Meter-Lauf kommt das allerdings wenig überraschend.

Ganz anders im Eishockey. Natürlich gibt es enge Spiele, die einem bis zur letzten Sekunde Schweissperlen auf die Stirn treiben. Ein «Zielfoto», wie etwa aus der Leichtathletik bekannt, entscheidet normalerweise keine Spiele. Normalerweise.

Und nun zum echten Schocker

23. Mai 2019. Die Schweiz führt an der Eishockey-WM im Viertelfinal gegen Kanada kurz vor Schluss 2:1. Die Ahornblätter setzen, wie in solch einer Situation üblich, alles auf eine Karte, ersetzen den Torhüter durch einen sechsten Feldspieler. 28 Sekunden vor Schluss wird das Risiko beinahe bestraft, doch der Befreiungsschlag von Nati-Captain Raphael Diaz verfehlt das leere Tor knapp. Das Zittern geht weiter, auch weil es Gaëtan Haas 13 Sekunden später nicht schafft, die Scheibe aus dem Drittel zu spedieren.

Die Kanadier können sich in der Folge noch ein letztes Mal formieren. Zwei Sekunden vor Schluss zieht Damon Severson mit dem Mut der Verzweiflung von der blauen Linie ab, Moser wirft sich heldenhaft in das Geschoss, der Halbfinal-Einzug ist perfekt … denkste! Denn die Scheibe landet wieder auf der Schaufel von Severson, der zieht ein zweites Mal ab und sieht, wie der Puck – von Goalie Genoni noch entschleunigt – ins Tor kullert.

Ein echter Schocker, ein Stich ins Herz eines jeden Schweizer Eishockeyfans. Doch es keimt Hoffnung auf, die Schiedsrichter überprüfen den Treffer am Monitor. Steht die Schweiz gleich als Halbfinalist fest? Im TV ist zu sehen, dass die Uhr bereits auf 0:00 stand als der Puck die Torlinie überquerte.

Leider nicht das entscheidende Bild für die Schiedsrichter.
Leider nicht das entscheidende Bild für die Schiedsrichter.
Screenshot: SRF

Es sind Augenblicke, die kaum auszuhalten sind, weder für die Spieler noch für die wartenden Zuschauer. Wieder und wieder flimmert die Szene über den Bildschirm, nun allerdings wird eine Uhr eingeblendet, die auch Hundertstel-Sekunden anzeigt. Und so wird spätestens nach der fünften «Super Slow-Mo» auch dem kühnsten Optimisten klar, dass die Scheibe die Torlinie 0,4 Sekunden vor Schluss überquert hat. Mickrige 0,4 Sekunden trennten die Schweiz vom Halbfinal-Einzug.

Doch es gilt nach diesem Schocker den Kopf schnell wieder hochzukriegen, noch lebt der Traum vom Halbfinal. Schliesslich ist das Spiel nicht verloren, es geht mit drei gegen drei in die Verlängerung. Dort versetzen die Kanadier der Schweiz nach fünf Minuten und sieben Sekunden allerdings den endgültigen K.o.-Schlag. Eine nur sehr schwer zu verdauende Niederlage. 0,4 Sekunden, die mich mehrere Stunden Schlaf berauben.

Die Schweizer erzielten den 2:1-Führungstreffer übrigens drei Sekunden vor Ablauf des zweiten Drittels. Doch wen interessiert's, Tor ist Tor. Einzige Ausnahme: Das «falsche» Team erzielt es 0,4 Sekunden vor Schluss.



Auch die Beachsoccer-Nati verliert mit dem Schlusspfiff

Ähnlich wie den Schweizer Eishockeyanern ergeht es an der Beachsoccer-WM Ende November übrigens auch der Beachsoccer-Nati. Im Viertelfinal gegen Italien steht es 4:4, der Schweizer Goalie feuert sechs Sekunden vor Schluss einen Schuss ab und verfehlt den Siegtreffer um Haaresbreite. Ein letzter Auswurf des italienischen Torhüters findet dann den Weg zu Emmanuele Zurlo, der mit einer sehenswerten Direktabnahme mit dem Schlusspfiff ins Tor trifft. Die Schweiz fährt nach Hause, Italien ins Halbfinal.

So brutal das im ersten Moment manchmal ist, ich möchte diese Dramen nicht missen. Das wirklich faszinierende am Sport sind die Emotionen. Und nur wer die Niederlage kennt, kann Siege richtig geniessen.

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