Die Schweizer Kunstturnerinnen verpassen an den Weltmeisterschaften in Stuttgart die Team-Qualifikation für die Olympischen Spielen deutlich. Die Entwicklung im Schatten Giulia Steingrubers stagniert.
Die Bilanz des Schweizer Nationaltrainers Fabien Martin nach der Qualifikation fiel zwiespältig aus. «Der Wettkampf verlief positiv, wir sind ohne Sturz durchgekommen und haben die erhofften 156 Punkte fast erreicht», sagte der Franzose. Das grosse Ziel, die erstmalige Olympia-Teilnahme einer Schweizer Frauen-Mannschaft seit 1984, verpasste die STV-Riege aber deutlich. «Deswegen sind wir auch enttäuscht.»
Martin hatte 2017 die Nachfolge von Zoltan Jordanov mit der Zielsetzung angetreten, dies zu schaffen, nachdem seinem Vorgänger vorgeworfen worden war, den Fokus zu wenig auf das Team gelegt zu haben. «Wir haben die Steigerung nicht so hingekriegt, wie wir es erhofft haben», sagte Felix Stingelin, der Chef Spitzensport im STV. «Vielleicht waren wir nach den Resultaten in Bern ein wenig zu euphorisch.» 2016 an der Heim-EM belegten die Schweizer Teams bei der Elite Platz 4 und bei den Juniorinnen Platz 6.
Die Gründe für den fehlenden Fortschritt sind vielschichtig. Die vielen Verletzungen spielten eine Rolle. Steingruber fiel während dem laufenden Olympia-Zyklus zweimal länger aus, in Stuttgart fehlten mit Leonie Meier und Anina Wildi zwei Turnerinnen mit Jahrgang 2002. Lynn Genhart, die EM-Zweite im Mehrkampf bei den Juniorinnen in Bern, gab vor wenigen Wochen ihren Rücktritt. In Stuttgart war Anny Wu die Einzige, die 2015 noch nicht dem Nationalkader angehört hat. Der WM-Einsatz der 16-Jährigen beschränkte sich aber gerade einmal auf einen Sprung.
Die Erinnerung an 2011
Stingelin erinnert die Situation an diejenige des Männer-Teams 2011, als an den Weltmeisterschaften in Tokio das Ziel Olympia ebenfalls verpasst wurde. «Wir traten an Ort und schafften mit erfolgreichen Junioren den Sprung in den Elitebereich nicht.» Die Lage sei ähnlich verfahren gewesen. Der Verband bewahrte Ruhe und wurde dafür vier Jahre später mit der Olympia-Qualifikation belohnt. «Es gibt keinen Grund, wenn wir es bei den Männern geschafft haben, es nicht auch bei den Frauen tun können», so Stingelin.
Zwischen den Geschlechtern gibt es allerdings Unterschiede. Die Juniorinnen weisen nicht ganz das Niveau ihrer männlichen Kollegen von damals auf, zudem müssen sie viel schneller den Sprung vom Nachwuchs- in den Elitebereich schaffen. Die Ausbildung zur Spitzenathletin findet bei den Frauen während der Pubertät statt, wenn sich der Körper am verändern ist, was das Risiko von Verletzungen erhöht.
Der Verband begann frühzeitig, die Gründe für das sich anbahnende Scheitern zu eruieren. Im Frühling wurden Gespräche mit Athleten, Angestellten und Trainern in den Regionen geführt. «Die Probleme können wir nicht nur in Magglingen lösen, sie fangen schon tiefer unten an», so Stingelin. «Geld allein löst das Problem aber nicht.»
Das Ausbildungsprogramm für den nächsten Olympia-Zyklus wurde überarbeitet, eine gute akrobatische und artistische Grundausbildung bildet die Basis. Die Akteure in den Regionen und ihren Leistungszentren sollen gestärkt werden, und im Spitzensport wird der Fokus noch mehr auf die Besten aus den Nachwuchs- und Juniorinnenkadern gerichtet. Diese sollen früher erfasst und durch einen monatlichen Zusammenzug enger begleitet werden.
«Wir würden sie mit Handkuss nehmen»
Bis auf Weiteres lebt das Schweizer Frauen-Kunstturnen aber weiter fast ausschliesslich von Giulia Steingruber, die in Stuttgart zwar den Gerätefinal am Sprung (9.) und am Boden (13.) knapp verpasste. Sie meldete sich auf internationaler Ebene aber zurück und sicherte sich dank einem soliden Mehrkampf sowohl den Platz im Final der Top 24 als auch das Einzel-Ticket für Tokio.
Dass die 25-jährige Ostschweizerin nach ihren dritten Olympischen Spielen ihre Karriere fortsetzt, ist nicht ausgeschlossen. «Wir hoffen, dass sie zumindest noch die EM 2021 in Basel bestreiten wird», sagte Stingelin. Die Chancen auf die Olympia-Teilnahme eines Frauen-Teams 2024 in Paris würden mit Steingruber selbstredend markant steigen. Dies sei derzeit aber noch weit weg, so Stingelin. «Aber wir würden sie natürlich mit Handkuss nehmen.»