Kolumne am Mittag Als Wilhelm Tell seine Frau zur Urne begleitete

Von Felice Zenoni

5.2.2021

Nationalheld Wilhelm Tell macht mit seiner Familie Werbung für den ersten Urnengang, an dem auch die Schweizer Frauen teilnehmen dürfen. Der Kolumnist ist der Bub ganz rechts aussen.
Nationalheld Wilhelm Tell macht mit seiner Familie Werbung für den ersten Urnengang, an dem auch die Schweizer Frauen teilnehmen dürfen. Der Kolumnist ist der Bub ganz rechts aussen.
Bild: Keystone/Photopress-Archiv/Lötscher

Im Sommer 1971 posierte der Kolumnist mit Nationalheld Wilhelm Tell für ein Foto. Dieses bewarb den Urnengang, an dem erstmals in der Geschichte der Schweiz auch die Frauen teilnehmen durften.

Es war einmal ein knapp Siebenjähriger, der bei den traditionellen Altdorfer Tellspielen 1971 Willi Tell, den jüngeren Bruder von Walter, spielen durfte. Dieser Dreikäsehoch war ich.

Einen Sommer lang stand ich zusammen mit anderen Laienschauspielern*innen aus dem Kanton Uri in Friedrich Schillers «Wilhelm Tell» auf der Bühne des Tellspielhauses.

Damals wie heute sind Sprechrollen bei den alle vier Jahre stattfindenden Festspielen äusserst begehrt. «Ich bin Willi Tell», fühlte sich für Klein-Felice deshalb einfach grossartig an.

«Heile Schweiz und intakte Familie»

Eines Tages schickte die Theaterleitung Familie Tell auf eine Sondermission. Eine Fotoagentur hatte uns gebucht für einen speziellen Auftrag zum Thema «Erster Urnengang der Frauen vom 6. Juni 1971 nach Einführung des Frauenstimmrechts».

Zusammen mit meinem älteren Bruder Gerold, er gab Walter Tell, und unseren Theatereltern (Irene Fussen und Paul Murer) wurden wir an einem sehr heissen Sommertag zu einem Stall gefahren.

Dort musste ich, gekleidet in Holzschuhen, Hirtenhemd und einer dicken, juckenden Hose, die aus einem alten Wintermantel geschneidert worden war, stundenlang stillstehen, während uns die Urner Fotografen-Legende Richard Aschwanden in Szene setzte.

Damit das Klischee «heile Schweiz und intakte Familie» im Sinne des Auftraggebers eingelöst werden konnte, hängte man sogar eine Stromleitung ab. Irgendwann waren die Bilder im Kasten und wir konnten uns wieder auf die nächsten Bühnenauftritte im Tellspielhaus konzentrieren.

«Mutter, ich bleibe bei dir»

Die vor dem Stall nachgestellte Szene lief im eigentlichen Schiller-Stück etwa so ab: Wilhelm Tell gelüstet es nach Abwechslung und Amüsement, er will ausgehen. Der Erstgeborene, Walter, bekommt Wind davon und will mit Papa ins Städtchen. Dem Kleinen steht der Sinn vor allem nach Shopping. Mama Tell warnt vor den Gefahren der Konsumgesellschaft, denen Teenager in der Downtown auf Schritt und Tritt begegnen.

Auch ihren Gatten ermahnt sie und sieht ihn bereits in eine Schlägerei mit Auswärtigen oder Agglos verwickelt. «He, nicht mit mir», erwidert Tell und verweist auf die Armbrust, die er – trotz fehlendem Waffenschein – schultert. Die Männer schlagen sämtliche Warnungen in den Wind und machen sich auf den Weg. Zurück bleiben Hedwig Tell und der kleine Willi.

Was macht Mutter Tell in dieser Situation, damit auch hier das Klischee aus jener Zeit stimmt? Richtig, sie widmet sich der Hausarbeit, die in der Inszenierung 1971 in einen Waschtag mündet. Und hier hatte Willi Tell, also ich, endlich seinen grossen Auftritt: «Mutter, ich bleibe bei dir», lauteten meine ersten und auch letzten Worte im fast dreistündigen Theaterstück.

Hedwig und Wilhelm Tell an der Urne in Altdorf.
Hedwig und Wilhelm Tell an der Urne in Altdorf.
Bild: Keystone/Photopress-Archiv/Lötscher

Nichtsdestotrotz gelang es mir jeweils mit dem Einzeiler, für zwei Lacher beim Publikum zu sorgen. Der erste ging auf das Konto von Friedrich Schiller. Den zweiten erzeugte ich, indem ich ruppig die Kleidungsstücke von der Wäscheleine herunterzerrte. Ich bin Regisseur Erwin Kohlund bis heute dankbar, dass er mich nicht als frühreifen Macho inszeniert hat und ich Mama Tell zur Hand gehen durfte.

Anzeichen von Sorgenfalten

Zurück zum Agenturfoto vor dem Stall: Journalismus verlangte wohl schon damals Multitasking. Parallel zum Foto drehte Fotograf Richard Aschwanden auch noch einen Beitrag für das Schweizer Fernsehen.

Nach dieser Making-of-Schilderung ergibt die ziemlich an den Haaren herbeigezogene Legende der Bildagentur wenigstens halbwegs Sinn:

«Erstmals in der Geschichte der Schweiz sind die Frauen an die Urnen gerufen, um zu eidgenössischen Vorlagen Stellung zu nehmen. Die ersten an den Altdorfer Urnen werden die beiden Hauptdarsteller der Tellspiele, Paul Murer, der Wilhelm Tell verkörpert, und Irene Fussen, die seine Gemahlin spielt, sein. Bevor Frau Hedwig Tell sich mit Mann und Stimmzettel auf den Weg zur Urne machen wird, posieren beide mit den Söhnen Walter und Wilhelm vor einem Stall. Aufgenommen am 4. Juni 1971 in Altdorf.»

Einspruch! Der Aufnahmeort ist nicht korrekt wiedergegeben. Der Stall, vor dem das Foto entstand, steht im Urner Schächental.

Ich weiss noch genau, wie mir auf der kurvenreichen Strasse ins Tal heftig übel geworden ist. Vielleicht erklärt das damalige Unwohlsein meinen ernsten Nirgendwo-Blick auf dem Foto. Er wurde durch die Hektik und Erwartungshaltung am Set eher noch verstärkt als gemindert.

Oder sollte ich so vorausahnend gewesen sein, dass Anzeichen von Sorgenfalten auf meinem Gesicht erkennbar sind? Bis zur Gleichstellung von Mann und Frau sollte es nochmals sage und schreibe zehn Jahre dauern.


Zum Autor: Filmemacher Felice Zenoni präsentierte kürzlich an den 56. Solothurner Filmtagen seinen Dokumentarfilm «Der Spitzel und die Chaoten». Der Film thematisiert die Zürcher Jugendbewegung 1980. Der gebürtige Altdorfer ist seit über 30 Jahren als Autor und Off-Sprecher für Film, Fernsehen und Radio tätig.

Regelmässig gibt es werktags um 11:30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «blue News» die Kolumne am Mittag – es dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.


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