Teil 8 Zeit schinden (8/40)

Beni Thurnheer

12.6.2018

Wer gegen Ende eines Fussballspiels knapp in Führung liegt, hat meistens nur noch eines im Sinn, nämlich dieses Resultat bis zum Schlusspfiff zu halten.

Jeder Unterbruch, jede Spielverzögerung ist willkommen, vorausgesetzt, sie führt nicht dazu, dass der Schiedsrichter sich veranlasst sieht, die entsprechende Zeit nachspielen zu lassen. Die eine oder andere Sekunde lässt sich aber immer wieder ungestraft rauben, und ‹viel Kleinvieh gibt auch Mist›, sprich: Viele einzelne vertändelte Sekunden ergeben auch die eine oder andere Minute.

Es ist wirklich erstaunlich, wie virtuos die Fussballer in diesem Mikrobereich der Zeiteinheiten agieren. Das muss ihnen in Fleisch und Blut übergegangen sein, eingeimpft in vielen Gesprächen und Trainingsstunden. Oder gehört das sogar zu ihrem Grundtalent? All diese Nickeligkeiten haben allerdings einen empfindlichen Nachteil: Sie widersprechen dem Gebot der Fairness.

Die grössten Techniker benehmen sich plötzlich sehr ungelenk, wenn es darum geht, dem Gegner den Ball für einen Freistoss, Einwurf oder Corner zukommen zu lassen. Der Pass gerät garantiert immer einige Meter zu kurz, und der von Hand geworfene Ball kommt viel zu früh zu Boden. Sollen sich doch die anderen bücken und etwas zusätzliche Energie verschwenden! Oder der Ball fliegt über den Empfänger hinweg, so dass dieser zurück- und wieder nach vorne laufen muss. Schon wieder einige wertvolle Sekunden gewonnen. Der Ort, wo der Freistoss oder der Einwurf stattfinden sollte, wird immer um mehrere Meter verfehlt, natürlich immer in Richtung des gegnerischen Tores. Liegt der Ball zum Freistoss bereit, schubst man ihn flugs einige Meter zurück. Das Foul geschah doch ‹eindeutig› weiter hinten!

Cleveres Vorgehen ... oder doch einfach nur unfair?

Und sollte der Ref diese Meinung nicht teilen und auf der ursprünglichen Stelle beharren, ist trotzdem wieder ein wenig Zeit nutzlos verstrichen. Will der Gegner den Freistoss sofort ausführen, spaziert man ‹zufälligerweise› dicht vor ihm vorbei und bleibt, in Gedanken scheinbar völlig woanders, stehen. Oder man dachte, der Schiri hätte nicht gegen, sondern für einen gepfiffen und hat den Freistoss deshalb gleich selbst ausgeführt, mit einem raumöffnenden Pass in die Tiefe. «Was, das war nicht unser Ball? Sorry …»

Oder man hat erst gar nicht gemerkt, dass der Schiedsrichter gepfiffen hat, und noch ein Weilchen weitergespielt, wie wenn nichts wäre. Diese ‹Schwerhörigkeit› kommt auch zum Tragen, wenn ein Stürmer aus dem Offside zurückgepfiffen wird. Er schiesst dann trotzdem noch, vorzugsweise weit übers Tor … «Ich? Im Abseits? Gepfiffen? Ich habe nichts gehört!» Torhüter beim Abstoss und Feldspieler beim Corner brechen den Anlauf plötzlich wieder ab. Irgendwie liegt der Ball nicht ganz richtig, eine kleine Furche stört, oder er hat sich gar leicht von einer Kuppe herunterbewegt, fast unmerklich zwar, aber immerhin …

Beim Einwurf läuft man drei, vier, fünf Schritte vorwärts, bis man den Ball endlich freigibt. «Zu weit! Bitte nochmals, aber zehn Meter weiter hinten!» «Klar doch, Ref, kein Problem!»

«Schiedsrichter, wir wollen auswechseln!» Logisch, dass derjenige Spieler den Platz verlassen soll, der den weitesten Weg zur Ersatzbank hat. Und ebenso klar ist, dass er, völlig erschöpft, nur noch ganz langsam, fast schon auf den Knien, zu schleichen im Stande ist.

Es wird ständig gefeilscht, um jeden Zentimeter, um jede Sekunde! Hunderttausende von Schauspielern mimen jedes Wochenende die Rolle des ungeschickten Ahnungslosen. Millionen von Verhaltensweisen stützen sich auf das Konstrukt des Rechtssatzes ‹Im Zweifel für den Angeklagten›. Denn wie sollen die Schiedsrichter die unehrliche Einstellung jedes Mal nachweisen können?

Die allermeisten Fussball-Enthusiasten nennen dieses Vorgehen clever.

Ich nenne es unfair. Auszurotten ist es nicht. Der Faszination des Fussballs kann jedoch auch dies nichts anhaben.


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