SterbehilfeÄrztin Tanja Krones: «Sterben ist nicht nur schrecklich»
Jürg Wiler
17.1.2019
Tanja Krones setzt sich oft mit Anliegen von unheilbar kranken Menschen auseinander. Als Ärztin und Geschäftsführerin des klinischen Ethikkomitees am Universitätsspital Zürich berät sie sowohl Ärzte als auch Angehörige und Patienten in existenziell schwierigen Situationen. Unter anderem zur Freitodhilfe.
Frau Krones, was genau macht ein Ethikkomitee?
In den letzten 15 Jahren haben sich in den meisten Universitätsspitälern und zunehmend auch in kleineren Kantonsspitälern und Pflegeeinrichtungen in der Schweiz solche Fachstrukturen entwickelt. Sie unterstützen die Behandlungsteams, Angehörige und Patienten bei Problem- und Dilemma-Situationen. Also bei Auseinandersetzungen, wo es den besten Weg zu finden gilt. Die klinische Ethik macht drei Jobs: Erstens geht es um Fort- und Weiterbildung für Behandlungsteams. Zweitens gilt es, in konkreten und schwierigen Situationen zu unterstützen – und wohlgemerkt nicht zu entscheiden; vielmehr hilft man bei der Abwägung, steuert Informationen bei und moderiert den Prozess. Drittens sind organisationsethische Richtlinien zu erarbeiten, auch im nationalen und internationalen Kontext.
Welche Fragen gehören für Sie im Alltag zu den schwierigen?
Oftmals sind Probleme rund um die Gerechtigkeit zu lösen. Zum Beispiel: Wir haben zwar ein Krankenkassen- Obligatorium, doch es bestehen grosse Lücken. Relevante Fragen sind: Wie gehen wir mit Patienten um, welche die Prämien nicht bezahlt haben? Wie regeln wir es, wenn interne Schulden bestehen? Ebenfalls setzen wir uns mit dem Umgang hinsichtlich Über- und Unterversorgung auseinander.
Wie viele Fälle behandelt das Komitee pro Jahr und wie ist die Tendenz?
Unser zweiköpfiges Team bearbeitet – zusammen mit den Ethikverantwortlichen in jeder Klinik des Unispitals – knapp 1000 Fälle pro Jahr. Als ich vor zehn Jahren hier angefangen habe, waren es noch 15. Seither ging es schnell bergauf.
Was passiert, wenn sich die Behandlungsteams nicht einig sind? Zum Beispiel, wenn Kardiologen, Chirurgen oder Pflegeteams eine Prognose verschieden bewerten?
Es ist ja klassisch, dass Menschen sich nicht einig sind, weil man Dinge unterschiedlich sehen kann. In vielen Situationen, wo es um ethische Fragestellungen geht, gibt es kein «falsch» und «richtig». Und oft gibt es nicht nur eine gute Lösung. Unsicherheit ist Teil der Medizin. Daher gilt es, gemeinsam auszutauschen: Aufgrund welcher Erfahrung oder Gewissheit schlagt ihr einen Weg vor oder wie kommt ihr zu den unterschiedlichen Urteilen? Oft ist es eine Klärung des Informationsaustauschs. Und vielfach steckt in den unterschiedlichen Prognosen auch eine Werthaltung drin; also wenn ein Arzt kämpfen will und die Prognose doch etwas schöner darstellt als die Ärztin, die sagt, für mich ist die Lebensqualität nicht mehr gegeben. Das gilt es zu klären.
«Konflikte zur Freitodhilfe sind bei uns ganz selten.»
Bekanntlich herrscht eine strenge Hierarchie in den Spitälern. Zählt letztlich nicht doch das Wort des Chefarztes?
Diese Hierarchie gibt es, auch innerhalb der Pflege. Das ist natürlich auch abhängig von der Zusammensetzung der entsprechenden Abteilung. Ein grosses Unispital hat auch unterschiedliche Kulturen. Das hängt immer auch vom Chef oder von der Chefin ab. So gibt es Abteilungen, die ein exzellentes Teamwork haben, bei anderen gibt es noch die klassischen Chefs. Das hängt nicht immer nur vom Alter ab. Natürlich übernimmt der Chef oder die Chefin einer Abteilung eine Verantwortung, das muss berücksichtigt werden. Es gibt jedoch zunehmend Behandlungsteams, welche eine hohe Interprofessionalität leben. Beides läuft parallel.
Kommunikation ist das A und O in schwierigen Situationen. Wie nehmen Sie die Gesprächskultur zwischen Ärzten und Patienten wahr?
Unterschiedlich. Es besteht sicher Raum nach oben. Tatsächlich handelt es sich hier auch um eine Generationenfrage. Erfahrene Ärzte sind häufig exzellent in der Kommunikation. Wir treffen jedoch auch auf Situationen, in denen auch Kaderärzte nicht in der Lage sind, Gespräche mit Patienten wirklich gut zu führen. Es sind tatsächlich eher die Medizinstudierenden, die beim Thema Kommunikation intensiv vermittelt bekommen, wie sie zum Beispiel mit schlechten Nachrichten oder gemeinsamer Entscheidungsfindung umgehen sollten.
Bewegt sich bei Ihnen etwas im Bestreben, Ärzte beim Führen von heiklen Gesprächen zu schulen?
Bei diesem Thema sind verschiedene Fakultäten in der Ausbildung der Medizinstudierenden dran. Die Universität Basel zum Beispiel macht das auf hohem Niveau. In der Fort- und Weiterbildung der Ärzte findet es jedoch weniger statt. Am Zürcher Unispital laufen dazu einige Modellprojekte in unserem Simulationszentrum zusammen mit dem Bildungszentrum – und hier möchten wir gerne an die internationale Spitze. Es geht um lebenslanges Lernen von kommunikativen Fertigkeiten, was ja ebenso verbessert werden kann wie die manuellen Fertigkeiten in der Chirurgie. So bestehen verschiedene Bereiche, in denen immer wieder dazugelernt werden kann: schwerste komplexe Gespräche führen, hochstehende Aufklärung bieten mit Einbezug des Patienten, eine Vorausplanung mit ihm machen, über medizinische Fehler, die passiert sind, reden oder schlechte Nachrichten mitteilen.
Wenn man gut kommunizieren kann, handelt man sich weniger Probleme ein, auch rechtlicher Art. Das Bewusstsein dafür steigt. Nötig wäre, dass der Bund und die Krankenkassen die «sprechende Medizin » genauso refinanzieren wie teure Medikamente.
Wie werden im Universitätsspital schwer- und todkranke Patienten informiert über die Alternative Freitodhilfe?
Ärzte sprechen das Thema von sich aus selten aktiv an. In Deutschschweizer Spitälern ist es üblich, dass – falls ein Patient die Freitodhilfe von sich aus anspricht – dem Anliegen der Raum geöffnet und es aufgenommen wird. Auch fragen die Ärzte und Pflegenden nach, was dem Patienten wichtig ist. Dazu ist ein Vertrauensverhältnis nötig, das vorher geschaffen werden muss. Eine angemessene ärztliche Haltung ist, zu signalisieren: Ich kann das Anliegen verstehen und tabuisiere das Thema nicht; ich evaluiere es und kann Ihnen dabei helfen, Ihren Weg zu gehen. Wichtig ist: Wir können zwar informieren, aber wir haben keine Aufklärungspflicht für den Freitod. Das hängt von der Haltung des einzelnen Arztes ab.
Was ist zu beachten?
Gerade durch die Arbeit von EXIT haben die Menschen einen guten Zugriff auf entsprechende Informationen. Was sie oft nicht wissen: Wenn man den Weg des Freitodes wirklich wählen will, muss man urteilsfähig sein. Wenn Patienten das erfahren, kann das zu hektischen Situationen führen, bei denen sie so schnell wie möglich eine Begleitung haben wollen. Das ist berührend und unschön, und wir klären dann auf. Zudem ist es wichtig, dass wir Menschen mit dem Wunsch nach Freitodhilfe nicht gleich als suizidal einstufen und in die «psychiatrische Ecke» stellen. Hingegen ist es manchmal auch angezeigt, wenn in psychischer Not ein Psychiater hilft. Man muss in jedem Fall genau hinschauen.
Wie die allermeisten Schweizer Spitäler lässt die Zürcher Uniklinik in ihren Räumen Freitodhilfe nicht zu. Weshalb?
Die wesentliche Begründung ist, dass es dem Bedürfnis von Ärztinnen und Ärzten geschuldet ist. Vielen fällt es persönlich schwer, Lebensrettung und Freitodhilfe nebeneinander zu haben. Obwohl sie vielleicht den individuellen Wunsch nach einem assistierten Suizid nachvollziehen können. Die Organisation schützt damit die Behandlungsteams, in einen Rollenkonflikt zu geraten. Zudem: Wenn Menschen in Pflegeinstitutionen leben – dort ist ja eine Begleitung möglich –, ist das ihre Privatsphäre und ihr Zuhause. Das ist in einem Spital nicht der Fall. Grundsätzlich sind wir aufgefordert, das Thema nicht zu tabuisieren. In der Fürsorge ist zu hinterfragen, ob sich jemand diesen Entscheid sehr gut überlegt hat und was man sonst noch tun könnte. Es ist jedoch dann schwierig, wenn der betreffende Mensch nicht mehr verlegt werden kann. Hier ist eine Einzelfallprüfung nicht ausgeschlossen.
Wie geht man in der Klinik mit Patienten um, die mit Freitodhilfe aus dem Leben scheiden wollen?
Wenn ein Mensch diesen Entscheid wohl erwogen hat, verhindern wir das nicht. EXIT kann auf jeden Fall auch Patienten besuchen und eine Begleitung mit ihnen planen. Die Patienten dürfen auch direkt nach Hause oder in ein Sterbezimmer entlassen werden. Wir geben den Austrittsbericht ab und belassen, falls gewünscht, einen bestehenden venösen Zugang. Das Zeugnis, das die Urteilsfähigkeit für den assistierten Suizid ausweist, wird nicht per se ausgestellt; das hängt vom jeweiligen Arzt ab. Bemerkenswert ist: Die Freitodhilfe wird zwar häufig diskutiert, aber konkret sind Konflikte dazu bei uns ganz selten. So befasst sich die klinische Ethik drei bis vier Mal pro Jahr damit – bei insgesamt rund 1000 Fällen.
«Wenn ein Mensch seine Entscheidung achtsam evaluiert, ist für mich eine Freitodbegleitung nachvollziehbar.»
Was denken Sie persönlich über Freitodhilfe?
Dass Individuen sich das Leben nehmen wollen, begleitet uns seit Menschengedenken. Aus philosophisch- ethischer Sicht ist das nicht per se verwerflich. Jede und jeder sollte für sich definieren können, was ein würdiger Tod ist. Wenn ein Mensch seine Entscheidung achtsam evaluiert und wohl erwogen hat, ist für mich eine Freitodbegleitung durchaus nachvollziehbar. Wichtig ist: Ein solcher Schritt bedingt eine grosse Sorgfaltspflicht. Man muss also sehr genau hinschauen. EXIT ist in der Pflicht, die bestehende Qualität aufrecht zu erhalten und auch weiterhin stetig zu verbessern.
Daneben sind in Ihrer täglichen Arbeit die Patientenverfügungen wichtig. Wann sind sie am hilfreichsten?
Patientenverfügungen sind dann hilfreich, wenn sie möglichst die eigene Wertvorstellung wiedergeben und mit dem Arzt oder einer Gesundheitsfachperson besprochen werden. Sinnvoll ist eine fachlich begleitete gesundheitliche Vorausplanung, in Englisch Advance Care planning genannt. Vernünftig ist auch das Gespräch mit den Angehörigen darüber, was ihre Hoffnungen, Ängste oder Wünsche sind.
Was sollte Ihrer Meinung nach vermieden werden?
Man sollte die Patientenverfügung nicht alleine erstellen. Menschen schreiben zum Beispiel in einer Werteerklärung: Ich wandere gerne in den Bergen, und meine Enkel sind mir wichtig – solche Informationen können wir im Ernstfall auf der Intensivstation nicht gebrauchen. Vielmehr fragen wir uns dann: Also auf Berge steigen kann der Patient nicht mehr, aber die Treppe hochsteigen kann er noch. Will er nun sterben? Die Ärzte, welche eine Patientenverfügung umsetzen, müssen verstehen, welches das Therapieziel ist. Was sie brauchen ist: Was ist ein No-Go? Man muss zusammen mit einer Fachperson die richtigen Fragen stellen: Was ist mir bei einer Notfallbehandlung wichtig? Wo ist die Grenze? Was darf auf keinen Fall passieren?
Ihre Aufgaben rund um Sterben und Tod sind nicht einfach. Wirken sie belastend auf Sie?
Wohlgemerkt: Sterben ist nicht nur schrecklich, es kann auch schön sein. Schön ist, wenn es Familienmitglieder schaffen, ihren Frieden zu finden. Letzthin kümmerten wir uns um eine Patientin mit einem langjährigen Leiden und um ihre Familie, die ein Leben lang zerstritten gewesen war. Trotz diesem Ringen musste ein Abschied geschafft werden. Jeder Tod sollte nicht nur dem betroffenen Menschen gerecht werden, sondern auch denen, die zurück bleiben und ihn lieben. Schön ist, wenn sie dann sagen können: Ich kann meinen Frieden finden, es war stimmig, ich kann damit weiterleben. Hierfür braucht es – wenn irgend möglich – Raum zur Kommunikation und zu Biografie-Arbeit. Auch ist ein plötzlicher Herzstillstand ein friedlicher Tod, wenn man weiss, dass es dem Verstorbenen entsprochen hat. Es kann zum Beispiel sehr friedlich sein, dem Verstorbenen dann guten Gewissens einfach die Hand zu halten.
Dieses Interview erschien zuerst im Magazin der Sterbeorganisation Exit.
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