Kolumne «Als Erwachsener merkte ich, dass ich mich als Frau fühle»

Von Johanna Lehmann

17.3.2020

«Für viele ist Transgender etwas aus der Schmuddelecke», sagt Johanna Lehmann. In der Gesellschaft gebe es noch wenig Akzeptanz und wenig Wissen darüber.
«Für viele ist Transgender etwas aus der Schmuddelecke», sagt Johanna Lehmann. In der Gesellschaft gebe es noch wenig Akzeptanz und wenig Wissen darüber.
Bild: zVg

Eine Hirnthrombose hat alles verändert. Danach wusste Hans Lehmann: Ich will als Frau leben. So wurde Hans vor vier Jahren zu Johanna. Das langjährige Versteckspiel hatte ein Ende.

42 Jahre lang hat Johanna Lehmann an der Primarschule unterrichtet, zuerst in Grenchen, später in Zuchwil. Damals noch als Hans Lehmann. Kurz vor ihrem Schlaganfall hatte sie die Schulleitung und die Kollegen über ihre Transgender-Identität informiert.

Dann die Thrombose im Gehirn. Fünf Wochen Spitalaufenthalt folgten. «Ich hatte Glück im Unglück», sagt Lehmann heute. «Ich hätte tot sein können.» Durch tägliches Training und mit viel Geduld lernte sie wieder gehen, sprechen und ihre linke Hand gebrauchen.

Die Geschichte eines Geschlechterwechsels – aufgeschrieben von Johanna Lehmann.

Wie in einem Schwarz-Weiss-Film

Die gängige Meinung ist, dass es zwei Geschlechter gibt, Männlein und Weiblein. Schon die Tatsache, dass manche Babys (30 bis 40 pro Jahr in der Schweiz) intersexuell, also mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen zur Welt kommen, bringt diese Vorstellung ins Wanken.

Wie passen da transsexuelle Menschen ins Schema? Erfreulicherweise dringt allmählich die Meinung durch, dass Transsexualität keine Geisteskrankheit ist und auch nicht anerzogen oder herbeigewünscht wird. Die Geschlechtsidentität ist offenbar unabhängig vom körperlichen Geschlecht.

Laut Forschungsergebnissen ist das für die Geschlechtsentwicklung zuständige Hirnareal bei Transfrauen und Biofrauen identisch. Der Psychiater Dr. Horst Haupt sagt: «Es gibt viele Hinweise, dass Transsexualität eine biologisch fundierte Variation des Gehirns, das heisst gesunde Normvariante ist und dass genetische, hormonelle und anatomische angeborene Besonderheiten des Gehirns die Basis von Transsexualität darstellen.»

Man ist es oder man ist es nicht

Transsexuell wird man also nicht über Nacht, man ist es oder man ist es nicht und niemand hat es sich ausgesucht, so zu leben. Im Englischen wird unterschieden zwischen dem biologischen Geschlecht (Sex) und der Geschlechtsidentität (Gender). Mir gefällt der Ausdruck «Transgender» besser als der Begriff «transsexuell», weil es nicht in erster Linie um Sexualität geht, sondern vielmehr um ein alles umfassendes Lebensgefühl.



Vielleicht lässt es sich so beschreiben: Als Mann lebte ich wie in einem Schwarz-Weiss-Film, im Gegensatz zu einem Farbfilm, wenn ich jetzt als Frau lebe. Der Begriff «Transgender» hat übrigens nichts zu tun mit dem Ausdruck «Travestie». Dieser bezeichnet Künstler, die sich als Frau verkleidet auf der Bühne präsentieren und die Verkleidung nach dem Auftritt wieder ablegen.

Wenn sich jemand in seiner Haut und mit seinem Geschlecht wohlfühlt, dann stellt sich auch nie die Frage, ob so alles richtig ist. Wenn dem aber nicht so ist, beginnt ein langer Leidensweg, wobei es erst herauszufinden gilt, was mit einem los ist. Als ich merkte, dass bei mir etwas anders ist, als bei anderen Männern, wusste ich zuerst nicht, worum es ging.

Ich war verwirrt. Erst durch das Internet begann ich zu verstehen, dass es dafür eine Bezeichnung gibt und dass ich damit nicht allein bin. In der Schweiz gibt es gemäss Schätzungen zirka 40'000 Transgender-Menschen. 

Beim Fussballspielen nicht zu gebrauchen

Schon als Kind spielte ich lieber mit Mädchen als mit Jungen. Beim Fussballspielen war ich nicht zu gebrauchen und war stets Ersatzspieler, der am besten gar nicht zum Einsatz kam. Erst als Erwachsener merkte ich, dass ich mich als Frau fühle, aber im falschen Körper steckte. Ich spürte in mir einen grossen Drang, mich als Frau zu schminken und zu kleiden. Immer wieder warf ich meine Utensilien weg, um kurze Zeit später wieder alles zu kaufen. Ich wagte es nicht, jemandem von meinen inneren Kämpfen zu erzählen.

Für Nicht-Betroffene ist es wohl kaum nachvollziehbar, was für Höhen und Tiefen man als Transgender durchlebt. Einmal sass ich in Biel in einem Strassencafé und sah gegenüber im Kleidergeschäft einen Jeansrock am Ständer hängen, den ich mir nicht zu kaufen getraute. Als meine Frau später in einem Wochenkurs weilte, probierte ich in Ermangelung eigener Kleidungsstücke einen ihrer Röcke an. Weil ihre Grösse nicht meine war, platzte der Reissverschluss. Ich liess ihn reparieren und konnte den Rock rechtzeitig an seinen Platz hängen.



In der folgenden Woche nahm sich meine Frau ihre Garderobe vor. Sie nahm besagtes Kleidungsstück in die Hand, sagte: «Den will ich auch nicht mehr!», und warf den Rock kurzerhand in den Kleidersammlungssack. Heute lachen wir darüber.

Erst viel später kam meine Frau durch Zufall hinter mein Geheimnis und mit der Zeit zur Einsicht, dass ich sowohl als Mann, wie auch als Frau dieselbe Person bin. Ich überlegte mir, ob ich es wagen könnte, einmal anonym in einer Stadt unterwegs zu sein. Meine Frau schlug mir vor, es doch in Freiburg im Breisgau, Deutschland, zu versuchen. Ich merkte, dass das ja gut und recht war, mich im Ausland als Frau zu zeigen. Doch ich wollte zu Hause so leben.

«Sie haben Haare und Finger wie eine Frau»

Es war also an der Zeit, mich in meinem Umfeld zu outen. Das tat ich denn auch bei Verwandten, Freunden und Bekannten. Die meist positiven Reaktionen bestärkten mich. Manche sagten sogar, das sei für sie keine Überraschung, sie hätten so etwas schon gespürt. In der Schule, in der ich damals noch als Lehrer arbeitete, war es für mich unmöglich, als Frau in Erscheinung zu treten. So outete ich mich lediglich bei Kolleginnen und Kollegen, der Schulleitung und beim Schuldirektor.

Die Kinder machten sich wohl aber auch ohne mein Zutun ihre Gedanken. Ein Mädchen sagte zu mir: «Sie haben Haare und Finger wie eine Frau!» und ein Junge meinte: «Als ich Sie das erste Mal gesehen habe, meinte ich, Sie seien eine Frau!»

Dieser Text ist unter dem Titel «Transgender» im Buch «Unerhörti Lieder» (davon 20 Lieder auf CD) von Johanna Lehmann erschienen.

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