Kolumne Bettelbriefe – das grosse Geschäft mit dem schlechten Gewissen

Marianne Siegenthaler

2.12.2018

Bettelbriefe, die sich in den letzten Tagen im Briefkasten von «Bluewin»-Kolumnistin Marianne Siegenthaler angesammelt haben.
Bettelbriefe, die sich in den letzten Tagen im Briefkasten von «Bluewin»-Kolumnistin Marianne Siegenthaler angesammelt haben.
Bild: ms

Ob Bettelbriefe oder Strassenkampagnen: Jedes Jahr gehen Hilfsorganisationen im Advent mit emotionalen Tricks auf Spendenfang – zum Ärger von «Bluewin»-Kolumnistin Marianne Siegenthaler.

In diesen Tagen bekomme ich so richtig viel Post. Teilweise dicke Post. Denn in den Couverts stecken nicht nur Bettelbriefe mit Fotos von armen, hungrigen Kinder oder gequälten Hunden und Einzahlungsscheine, sondern auch kleine Gschänkli.

So kam bei mir in nur gerade zwei Tagen folgendes zusammen: 2 Christbaumanhänger, 1 Lupe, 3 Post-it-Blöckli, 1 Schlüsselanhänger, 1 klappbare Schere, 1 Guetzliausstecher, noch 1 Christbaumanhänger, 1 Set Karten mit Briefumschlägen, 1 CD mit Weihnachtsliedern, 1 Kugelschreiber und 2 Pflaster in Tierform.

Der Zweck ist eindeutig: Mit den Goodies soll meine Spendierlust angeregt werden. Denn wenn mir jemand etwas gibt, dann will ich doch auch etwas zurückgeben. Das ist ein ganz normales menschliches Bedürfnis, das da fadegrad ausgenutzt wird.

Spendierfreudigkeit anheizen

Dabei könnte man den Brief einfach ins Altpapier legen und all den Ramsch, der mitgeschickt wird, wegschmeissen. Aber da kommt sofort das schlechte Gewissen auf. Man wirft nicht einfach Dinge weg, die funktionieren (wobei der Kugelschreiber kaputt war und nicht zu gebrauchen). Das schadet der Umwelt, weil das ja alles verbrannt wird. Dabei können wir Adressaten ja nichts dafür, dass wir mit all dem Zeug vollgemüllt werden.

Aber auch die Bilder sollen meine Spendierfreudigkeit anheizen. Da schaut mich ein kleines, dünnes Kind mit grossen, traurigen Augen an. Ein räudiger Hund schleppt sich durch einen schmutzigen Hinterhof.

Oder ein Obdachloser sitzt bei Eiseskälte auf dem Parkbänkli und friert. Da will man doch spontan helfen und mit ein paar Franken wenigstens ein bisschen gegen das Elend dieser Welt ankämpfen.

Erfolgreiche Masche

Offenbar ist diese Masche ein voller Erfolg: 2017 kamen laut Zewo, das ist die Zertifizierungsstelle für gemeinnützige Spenden sammelnde Organisationen in der Schweiz, 1,85 Milliarden Franken zusammen. Ist noch viel, oder? Und der grösste Teil stammt von privaten Haushalten.

Interessant wäre es jetzt zu wissen, ob das viele Geld auch tatsächlich den hungernden Kindern oder den Strassenhunden zugute gekommen ist. Oder ob es in den neuen Mercedes eines korrupten Staatsoberhauptes geflossen ist. Oder sonstwie auf dem weiten Weg zu seinem Bestimmungsort quasi versickert ist.

Zumindest bei Hilfswerken mit Zewo-Gütesiegel sollen 79 Prozent der Spenden auch wirklich zum angegebenen Zweck eingesetzt werden. Der Rest wird für Administration und Mittelbeschaffung, eben Bettelbriefe mit Gschänkli, benötigt.

Für mich ist klar: Ich spende.

Aber ich spende freiwillig. Ich lasse mich weder durch rührselige Fotos unter Druck setzen, noch durch Schlüsselanhänger oder ähnliches bestechen. Ich spende da, wo ich es besonders wichtig finde – und wo ich einigermassen sicher bin, dass das Geld auch ankommt und wie versprochen verwendet wird.

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In der Rubrik «Die Kolumne» schreiben Redaktorinnen und Redaktoren von «Bluewin» regelmässig über Themen, die sie bewegen. Leserinnen und Leser, die Inputs haben oder Themenvorschläge einreichen möchten, schreiben bitte eine Mail an: redaktion2@swisscom.com

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