Sexualberaterin über offene Beziehungen «Für polyamore Menschen ist die Liebe das höchste Gut»

Von Bruno Bötschi

7.3.2024

Offene Beziehungsmodelle sind auch in Filmen immer wieder ein Thema: Penélope Cruz, Javier Bardem und Scarlett Johansson in «Vicky Cristina Barcelona».
Offene Beziehungsmodelle sind auch in Filmen immer wieder ein Thema: Penélope Cruz, Javier Bardem und Scarlett Johansson in «Vicky Cristina Barcelona».
Bild: Metro-Goldwyn-Mayer (MGM)

Monogame Zweierkisten gelten als langweilig, derweil offene Beziehungen im Trend sein sollen. Ein Gespräch mit Paarberaterin Bettina Disler über Liebe, Eifersucht und neue Beziehungsmodelle.

Von Bruno Bötschi

7.3.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Bettina Disler arbeitet als systemische Paar- und Sexualberaterin in Zürich.
  • Monogame Zweierbeziehung gelten heute bei immer mehr Menschen plötzlich als spiessig. Alternative Beziehungs- und Liebesmodelle wie Polyamorie scheinen im Trend zu sein.
  • «Polyamorie ist eine Philosophie, deren höchstes Gut die Liebe und die im Idealbild frei von Eifersucht ist. Im Gegensatz zu anderen alternativen Beziehungsmodellen, wo die Eifersucht genutzt und im besten Fall in sexuelle Energie gewandelt wird», sagt Disler im Gespräch mit blue News.

Frau Disler, was denken Sie, wird es künftig immer mehr offene Beziehungen geben?

Jein. Die Bereitschaft vieler Menschen, phasenweise die Beziehung zu öffnen, ist sicher grösser als noch vor ein paar Jahren. Meine Erfahrung aus der Praxis zeigt jedoch, dass das Aufrechterhalten dieses Beziehungsmodells über längere Zeit hinweg für viele Beteiligten zu anstrengend wird.

Im Nachrichtenmagazin «Spiegel» war kürzlich zu lesen: «Monogame Zweierbeziehungen gelten für viele plötzlich als zu langweilig, zu spiessig, zu einengend. Alternative Liebesmodelle hingegen würden boomen.» Stimmt’s?

Der Begriff «Alternative Beziehungsmodelle» scheint mir passender, da nicht alle Modelle zwingend mit Liebe zu tun haben. Polyamore Beziehungen sind von offenen Beziehungen oder dem Swingermodell darin zu unterscheiden, dass es eine Orientierung ist, mit der sich die Beteiligten stark identifizieren.

Polyamorie ist eine Philosophie, deren höchstes Gut die Liebe und die im Idealbild frei von Eifersucht ist. Im Gegensatz zu anderen alternativen Beziehungsmodellen, wo die Eifersucht genutzt und im besten Fall in sexuelle Energie gewandelt wird. Sie ist da also eine wichtige Mitspielerin, die zur sexuellen Spannung beiträgt.

Und jetzt zu Ihrer Frage: Ja, es ist heute ein Trend zu alternativen Beziehungsmodellen spürbar. Dass aber eine Beziehung spiessig, langweilig oder einengend ist, hat nicht unbedingt damit zu tun, dass sie monogam gelebt wird.

Zur Person: Bettina Disler
Bild: zVg

Bettina Disler ist systemische Paar- und Sexualberaterin und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS). Nach ihrem Regiestudium an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und an der New York Film Academy (NYFA) inszenierte sie Opern sowie zahlreiche Filme über unterschiedliche Beziehungs- und Sexualthemen bei Transsexuellen, Frischverliebten, langjährigen Paaren und Singles. Später folgten ein Masterstudiengang in sexueller Gesundheit an der Hochschule für soziale Arbeit Luzern (HSLU) und in systemischer Sexualtherapie bei der Internationalen Gesellschaft für systemische Therapie in Heidelberg (IGST) sowie zahlreiche Weiterbildungen. Disler lebt und arbeitet in Zürich.

Was könnten die Gründe dafür sein, dass heute immer mehr Menschen alternative Beziehungsmodelle ausprobieren?

In den sozialen Medien wird ausführlich darüber berichtet und auf den ersten Blick scheint für viele eine Öffnung der Beziehung vielversprechend und zeitgemäss. Dabei muss man aber genau hinschauen, welcher Motor jeweils bei jeder einzelnen Person der Antreiber dafür ist.

Was heisst das konkret?

Die Frage ist doch: Will ich die Beziehung öffnen, weil es sich richtig anfühlt, weil ich es spannend finde und mich auf die Herausforderung freue? Oder aber, weil ich Angst habe meine Partnerin oder meinen Partner zu verlieren, wenn ich nicht mitmache, nur, weil das Gegenüber ein anderes Beziehungsmodell leben will?

Die Angst ist ein starker Motor und sehr vielseitig: Angst vor dem Alleinsein, Angst vor zu viel Commitment, Angst vor Langeweile, Angst nicht zeitgemäss und deswegen uncool zu sein …

Welches war die ungewöhnlichste Beziehungskonstellation, mit der Sie als Therapeutin bisher zu tun hatten?

Für mich gibt es nichts Ungewöhnliches. Kompliziert wird es dann, wenn Menschen unterschiedliche Modelle innerhalb einer Beziehung unter einen Hut bringen möchten, unabhängig von der Kombination – und alle denken, sie sprechen vom selben Modell.

Betreuen Sie auch Menschen, die in polyamoren Beziehungen leben?

Ja.

Was ist das denn überhaupt, Polyamorie?

Polyamorie ist eine Beziehungsform, in welcher die Beteiligten gleichzeitig mehrere Menschen lieben, das heisst mit ihnen einvernehmlich und transparent Liebespartnerschaften pflegen.

Das bedeutet aber nicht, dass alle Mitglieder der Konstellation auch untereinander Beziehungen führen – oder schläft jede*r mit jedem?

Beides ist möglich. Beispielsweise gibt es nicht selten Dreierkonstellationen, wo jede und jeder mit jedem eine Liebespartnerschaft führt. Seit der Netflix-Serie «You Me and Her» ist diese Art von Beziehung auch der Allgemeinheit bekannt geworden.

Mehrere Menschen gleichzeitig lieben: Kommt da nicht irgendwann Eifersucht auf?

Studien besagen, dass nur zwei Prozent der Menschheit keine Eifersucht empfindet. Das Gefühl, das Gegenüber an jemand anderen zu verlieren, ist also weit verbreitet und kommt in jedem Beziehungsmodell vor. Die Frage ist deshalb eher: Welchen Umgang pflege ich mit der Eifersucht?

Was ist Ihrer Ansicht ein guter Umgang mit Eifersucht?

Wenn man sie weg haben will, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sie stärker wird. Es geht also darum, die Eifersucht zu akzeptieren und sich zu fragen: Was brauche ich, damit es mir in meiner Beziehung gut geht? Es kann helfen, die Eifersucht zu externalisieren, indem man ihr einen Namen gibt und sie als einen Teil von sich sieht, der manchmal da ist und dann aber auch wieder weg ist.

Wenn alle Beteiligten eingeweiht sind, können sie über die jeweilige Eifersucht sprechen, als wären es Drittpersonen der Beziehung und wie sie als Team mit diesen umgehen wollen beziehungsweise was diese Personen brauchen, um in einer bestimmten Situation besser zurechtzukommen. Die Eifersucht als einen Teil mit in die Beziehung zu integrieren, ist eine Voraussetzung, einen guten Umgang damit zu finden.

Wo liegen die Schwierigkeiten bei polyamoren Beziehungen?

Schwierigkeiten in Beziehungen entstehen immer dann, wenn die Beteiligten unterschiedliche Ansichten bezüglich der Beziehungsgestaltung haben. Bei polyamoren Beziehungen ist oftmals die Raum- und Zeiteinteilung sehr herausfordernd.

Ähnlich wie beim Computerspiel Tetris ist es schlussendlich kniffelig, dass es für alle aufgeht. In polyamoren Beziehungen kommen immer wieder neue Mitspielerinnen und -spieler hinzu, denen anfangs besondere Aufmerksamkeit und damit Zeit geschenkt wird – auf Kosten der anderen Beteiligten. Wer polyamor lebt, sagt auch ja zu den Kehrseiten dieses Beziehungsmodells – also im Wissen darum, dass sich das Blatt jederzeit wieder wenden kann.

Können in solchen Situationen Selbstzweifel zum Problem werden?

Selbstzweifel hat, wie es das Wort schon sagt, allein mit einem selbst zu tun, nicht mit der Beziehung. Wenn das zum Problem wird, ist das ein Zeichen, dass man sich zuerst um sich selbst kümmern sollte, um wieder Boden unter den Füssen zu bekommen.

Ist das ein Thema, mit dem Sie sich oft auseinandersetzen müssen?

Auf den ersten Blick vielleicht. Aber Menschen, die zu mir kommen, suchen Rat. Das allein ist schon ein Akt der Selbstliebe und ein wichtiger Schritt Richtung Eigenverantwortung.

In welchen Schwierigkeiten stecken polyamore Menschen, die zu Ihnen in die Praxis kommen?

Wenn polyamore Menschen mit nicht polyamoren Personen eine Beziehung eingegangen sind, fühlt sich nach der Verliebtheitsphase der eine oder andere unverstanden. Das ist eine Situation, die öfters einmal vorkommt. Für Verliebte gibt es kein Morgen, beziehungsweise denken sie oft, die andere Person wird sich dann schon ändern, weil mit mir alles anders sein wird.

Ein Hauptproblem liegt demnach darin, dass die anderen Personen in der Beziehung nicht so sind oder werden, wie wir das gerne hätten.

Die meisten gehen davon aus, dass andere genau dasselbe wollen und die Situation gleich beurteilen, wie sie selbst. Wenn ich aber die Beteiligten je einen persönlichen Beziehungsverlauf visualisieren lasse und dann die einzelnen Wahrnehmungen auf die Beziehung miteinander vergleiche, sieht man teilweise krasse Unterschiede. Da staunen dann viele, wenn sie realisieren, dass da wohl etwas mit dem Übersetzungsprogramm schiefgelaufen ist. Das Hauptproblem liegt also in der Wahrnehmung der Beziehung, die von Person zu Person sehr verschieden sein kann.

Wir haben bisher vor allem über polyamore Beziehungen gesprochen. Ist in offenen Partnerschaften oder dem Swingermodell die Eifersucht ebenfalls ein Treiber?

Auch in einer offenen Beziehung gibt es essenzielle Themen, die von allen angeschaut und besprochen werden müssen, allem voran der Grad der Öffnung, die Transparenz, der Umgang mit dem offenen Austausch über sexuelle Erfahrungen ausserhalb der Beziehung. Eifersucht kann hier eine wichtige Rolle spielen, um die sexuelle Spannung zu erhöhen, indem man die externen Erfahrungen nutzt und in die bestehende Beziehung mit einfliessen lässt, der Paar-Sexualität damit einen Kick verschafft.

Problematisch wird es, wenn sich die Partnerinnen und Partner nicht darüber austauschen. Dann stellt sich die Frage, wie mit dem etwaigen Verschweigen oder dem aktiven Lügen umgegangen werden soll. Beispielsweise: Wenn ich es nicht wissen will, darf mich dann das Gegenüber anlügen?

Wann sollte ich mich für ein offenes Beziehungsmodell entscheiden?

Wer sich für das offene Beziehungsmodell entscheidet, sollte dies nur tun, wenn die Paar-Sexualität gut und auch sonst das Vertrauen in der Partnerschaft vorhanden ist. Auf keinen Fall sollte man ein bestehendes Problem outsourcen und denken, dass es damit gelöst ist. Diese Art von Problemlösungsstrategie kommt in meinem Praxisalltag häufig vor und ist meistens zum Scheitern verurteilt.

Warum?

Was in polyamoren Partnerschaften dazu gehört, nämlich, sich in andere zu verlieben, ist in einer offenen Beziehung für viele eine Grenze und gilt als Warnsignal. Wenn man in der bestehenden Partnerschaft unerfüllt ist und sich diese Erfüllung im Aussen sucht, wird eine andere Person schnell einmal als die Retterin oder der Retter gesehen. An diesem Punkt fällt es Frischverliebten oft schwer, noch die Reissleine zu ziehen, und so wird die Beziehung auf eine harte Probe gestellt. Wer seine monogame Beziehung irgendwann öffnen will, sollte dies deshalb sehr behutsam tun und stets ehrlich zu sich selbst sein.

Reden wir noch über das Swingermodell.

Das Swingermodell ist quasi eine erweiterte monogame Beziehung, in der beide miteinander «fremdgehen». Man sammelt also gemeinsam sexuelle Erfahrungen mit Drittpersonen – im Gegensatz zu einer offenen Beziehung, wo man individuell Erfahrungen mit Drittpersonen ausserhalb der Beziehung sucht.

Beim Swingermodell erfährt man nicht nur sich selbst in der Begegnung mit jemandem anderen neu, sondern gleichzeitig auch sein Gegenüber. Dies kann entweder anturnend oder irritierend sein, je nachdem, auf wen sich das Paar einlässt. Für viele Swingerpaare ist es jedoch genau das, was es ausmacht: nicht wissen, was sie als Nächstes erwartet, und die Möglichkeit, immer wieder von neuem überrascht zu werden.

So grundsätzlich: Wie sollten Menschen innerhalb einer Beziehung mit Problemen umgehen? Gibt es allgemein gültige Grundregeln, die eingehalten werden sollten?

Ein Problem ist sehr persönlich und zeigt einem auf, was man nicht oder nicht mehr haben möchte. Hier bleiben die meisten stehen, statt dann einen Schritt weiterzugehen und sich zu fragen: Was oder wie möchte ich es denn stattdessen?

Weiter kommt man, indem man sich und seine Bedürfnisse kennt und seinem Gegenüber dementsprechend konstruktive Lösungsvorschläge unterbreitet: Verhandeln statt Streiten, das ist eine allgemein gültige Grundregel für jede Partnerschaft.

Immer wieder trennen sich Paare, die nach aussen hin glücklich und zufrieden wirkten. Es gab also offenbar innerhalb der Beziehung aber doch Probleme. Sprechen manche Menschen zu wenig über ihre Beziehung?

Manchmal optimieren Paare ihr Was und ihr Wie, also die Form, was sie als Paar erreichen und wie sie als Paar leben wollen. Sie besitzen dann ein Traumhaus, haben coole Autos, haben tolle Kinder und reisen an die schönsten Orte der Welt. So betrachtet könnte man sagen, sie sprechen durchaus über den formalen Aspekt ihrer Beziehung.

Doch vor lauter Optimierung verlieren sie dabei das Wichtigste aus den Augen: ihr ganz persönliches Warum. Wenn man tief im Kern miteinander im Austausch bleibt, dann spielen das Was und das Wie kaum eine Rolle. Trennen will man sich dann, wenn dieses Warum verloren gegangen ist und sich eine Beziehung – mag sie gegen aussen noch so perfekt wirken – im Innern nur noch hohl anfühlt.

Was denken Sie, sollten sich Menschen innerhalb einer Beziehung mehr trauen? Sprich, auch einmal Ungewöhnliches ausprobieren, wenn es sich gut anfühlt?

Wenn es sich richtig anfühlt und beide dafür zu haben sind: unbedingt.


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