Nevin Galmarini «Du vergisst komplett alles, du kommst in einen Flow hinein»

Von Michael Angele

2.4.2021

«Meine Haltung war immer, wir Athletinnen und Athleten müssen schauen, dass wir uns strikt an die Corona-Regeln halten, wenn entschieden wird, dass wir Wettkämpfe haben dürfen, dann mache ich das»: Nevin Galmarini.
«Meine Haltung war immer, wir Athletinnen und Athleten müssen schauen, dass wir uns strikt an die Corona-Regeln halten, wenn entschieden wird, dass wir Wettkämpfe haben dürfen, dann mache ich das»: Nevin Galmarini.
Bild: Keystone

Snowboard-Olympiasieger Nevin Galmarini über den Spagat von Training und Studium, Wettkämpfe in Corona-Zeiten, seine gehörlosen Eltern – und die Freude am Fahren.

Von Michael Angele

2.4.2021

Wir sind zum Interview per Zoom verabredet, Nevin Galmarini ist aus dem bündnerischen Scuol zugeschaltet.

WM-Bronze, Olympia-Silber 2014, Gesamt-Weltcupsieg in der Saison 2017/18 und dann Olympia-Gold im Parallel-Riesenslalom der Alpin-Snowboarder 2018 im südkoreanischen Pyeongchang: Das Palmarès des 34-jährigen Snowboarders, der in Ardez im Engadin wohnt, ist lang.

Nevin Galmarini, können Sie mich hören?

Ich höre dich gut.

Du bist in Berlin? 

Ja. Da ist natürlich nicht viel mit Wintersport.

Interessieren sich die Deutschen eigentlich für Snowboard?

Ja, sie haben ein gutes Team bei den Frauen Alpin. Wir haben auch Weltcuprennen in Deutschland. In Berchtesgaden zum Beispiel.

Gut, alles im Süden. Vor Kurzem ging die Wettkampfsaison zu Ende. Du bist ja nach einer langen Verletzungspause wieder gefahren. Kannst du dich jetzt erholen?

Noch nicht ganz. Wir haben noch Materialtest, Sponsorentermine, die auch auf dem Schnee stattfinden. Und mein Snowboard-Camp steht an. Wie jedes Jahr.

Aber danach erholst du dich ...

Nein, dann habe ich Semesterprüfungen. Ich habe dann also eine Pause, was das Körperliche anbelangt, aber für den Kopf noch nicht.

Was genau studierst du?

Master of Science in Business Administration mit Vertiefung in Innovation Management. Tönt vielleicht imposant. Aber im Prinzip ist es einfach ein Studium im Wirtschaftsbereich.

Ein Fernstudium?

Ja, das ist ein cooles Studienmodell an der Fernfachhochschule FFHS Schweiz. Das Modell funktioniert so: 20 Prozent Präsenz, 80 Prozent Fernunterricht mit Online, Video etc. Und es kann nur Teilzeit studiert werden. Die Zielgruppe sind Leute, die das berufsbegleitend machen. In den vergangenen Jahren stellte sich heraus, dass das für ganz viele Schweizer Sportler ein gutes Modell ist.

Wer studiert da noch so?

Zum Autor: Michael Angele
Bild: zVg

Michael Angele meldet sich für blue News regelmässig aus Berlin. Er ist im Seeland aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Deutschlands Hauptstadt. Berndeutsch kann er aber immer noch perfekt. Hauptberuflich leitet er den Debattenteil der Wochenzeitung «Der Freitag». Als Buchautor erschienen von ihm zuletzt «Der letzte Zeitungsleser» und «Schirrmacher. Ein Porträt».

Viele Eishockeyspieler, zum Beispiel Leornardo Genoni. Für Sportler ist das super, man kann es von unterwegs machen.

Nun sind ja durch Corona auch normale Studenten zum Fernstudium verdammt. Da hört man viele Klagen. Sie vermissen den Austausch. Du kannst ihnen vielleicht auf diesem Weg auch mal die Vorteile nahebringen, auf einen Promi wie dich hören sie vielleicht.

Es ist vergleichbar mit dem Homeoffice. Es hat Vorteile, man kann seinen Tag selber gestalten. Aber es gibt auch die Nachteile, dass man sich zu wenig austauschen kann. Der Kaffeemaschinen-Moment fällt weg.

Diesen Moment vermisst auch du?

Natürlich, in unserem Modell ist es ja möglich, auch die 20 Prozent Präsenzzeit online zu machen. Aber ich wollte diese 20 Prozent nutzen, um mit dem Dozenten zu schwatzen und mit den anderen Master-Studenten, die ja alle schon im Beruf sind, in interessanten Funktionen und Positionen.

Wo ist die Schule?

Die Basis ist im Wallis, in Brig. Aber in die Schule kann man in Zürich, in Bern, Basel, St. Gallen und in Brig selbst.

Nun stelle ich mir Spitzensportler als Menschen vor, die sich extrem gut selbst motivieren können. Das ist leider nicht jedem gegeben.

So einfach ist das für mich auch nicht. Ich habe eine Grundregel: Wenn ich viel lernen muss, lerne ich zuerst, und trainiere dann. Das Training ist dann quasi das Zückerchen. Umgekehrt funktioniert nicht, nach dem Training noch lernen ...

Zu deinem Snowboard-Camp: Wie läuft das in Corona-Zeiten?

Dieses Jahr gibt es nur Schweizer Gäste. In den vergangenen neun Jahren habe ich das Camp kontinuierlich aufgebaut, also von 25 auf 50 Teilnehmende. Jetzt werden wir wegen der aktuellen Situation 20 Teilnehmende sein, allerdings in getrennten und kleinen Gruppen.

Wie macht ihr das mit der Verpflegung?

Die Hotels sind ja offen hier in Scuol. Es wird an Vierertischen gesessen, die Gäste werden behandelt wie Privatgäste. In der Gruppe, maximal sechs bis sieben Leute, sind wir nur auf dem Schnee. Wir werden Abstand einhalten, alles gemäss Schutzkonzept.

«Ich habe eine Grundregel: Wenn ich viel lernen muss, lerne ich zuerst, und trainiere dann. Das Training ist dann quasi das Zückerchen»: Nevin Galmarini.
«Ich habe eine Grundregel: Wenn ich viel lernen muss, lerne ich zuerst, und trainiere dann. Das Training ist dann quasi das Zückerchen»: Nevin Galmarini.
Bild: zVg

Bestimmt ist es in Zeiten so vieler Regeln besonders toll, den Hang runter zu sausen.

Die Vorfreude der Teilnehmenden ist sehr gross. Ganz viele Leute sind in diesem Winter ja selten auf die Piste gegangen. Man konnte zwar schon, aber viele hatten Vorbehalte. Dabei sind die Bedingungen hier wirklich top, kleine Gondeln, man kann zu zweit drin sitzen, Sessellifte ...

Was ich auch meinte: Jetzt runterzubrettern, ist vielleicht noch ein überwältigenderes Gefühl als sonst.

Absolut, du vergisst komplett alles, du kommst in einen Flow hinein, Stress ist inexistent.

In Deutschland, wo ich lebe, gibt es eine heftige Diskussion über die Privilegien von Spitzensportlern in der Pandemie. Fussball: Die Profis dürfen spielen und trainieren, die Amateure nicht. Tangiert dich diese Diskussion?

Ja das ist ein wichtiges Thema. Und ja, wir sind sehr privilegiert. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich Rennen fahren durfte, dass ich in Europa herumreisen durfte, auch wenn wir nicht nach Asien und Amerika fuhren, unsere Sponsoren haben uns weiter unterstützt, wir kamen im Fernsehen, wir hatten unsere Bühne. Das ist überhaupt nicht selbstverständlich. Umso wichtiger ist, dass man mit Menschen im Kontakt bleibt, die diese Privilegien nicht haben. Die zum Beispiel eine Beiz führen, die jetzt nicht aufmachen kann, oder dass man Kollegen hat, die normal arbeiten und jetzt seit Monaten im Homeoffice sind.



Findest Du es also richtig, dass der Betrieb für euch weiterging?

Ganz ehrlich, eine Beurteilung finde ich ganz schwierig. Ist es richtig? Ist es falsch? Meine Haltung war immer, wir Athletinnen und Athleten müssen schauen, dass wir uns strikt an die Regeln halten, wenn entschieden wird, dass wir Wettkämpfe haben dürfen, dann mache ich das, und ich setze mich ein, für meine Sponsoren, für meine Fans, für die Schweiz.

Nun herrscht ja eine spezielle Situation. Aber allgemein gefragt: Ist die Vorstellung, dass man etwas zurückgeben will, nicht etwas kitschig? Weil letztlich bist du ein Profi und sicher nicht ganz unegoistisch.

Ich will es so sagen: Ich war ein bisschen auf mich selbst fixiert, wollte unbedingt Profi werden, dafür gab ich alles, dafür bin ich arbeiten gegangen – und dann habe ich meine erste olympische Medaille 2014 gewonnen. Erst da habe ich gemerkt, dass das vielen Leuten etwas bedeutet, dass ich einen Impact habe, dass ich das nicht nur für mich mache. Dass ich etwas zurückgeben kann. Aus dem Gedanken ist auch das Snowboard-Camp in Scuol entstanden. Die Kids sollen eine Inspiration bekommen. Doch, ich finde deshalb schon, dass ich etwas zurückgeben will.

Wo du gerade von Scuol sprichst. Du sprichst auch Rätoromanisch, oder?

Ich spreche nicht perfekt. Verstehen: alles, reden: medium. Ich bin mit 13 ins Unterengadin gekommen, das ist gerade so der Moment, wo man es sich noch aneignet.

Dumme Frage, wird das überhaupt noch gesprochen?

Absolut! Im Unterengadin wird untereinander Romanisch gesprochen.

Ist nicht wahr, die Jungen auch?

Mit meinen Kollegen spreche ich Romanisch.

Welchen Dialekt genau?

Vallader.

Und deine Eltern, die ja beide gehörlos sind. Hören können sie es ja nicht, aber haben sie einen Bezug dazu? Lesen sie romanische Texte?

Meine Mutter hat es nie gelernt. Die Schreiben von der Gemeinde kommen ja alle auf Rätoromanisch.

Bestimmt sind sie doch zweisprachig.

Gewisse Sachen sind nur rätoromanisch.

Also kann deine Mutter es nicht verstehen, wenn jemand zu ihr Rätoromanisch spricht, weil sie seine Lippen nicht lesen kann.

Genau, sie kann kein Rätoromanisch, sie hat es nicht gelernt.



Und nun haben wir Corona. Und da tragen die Menschen oft eine Maske. Ist es jetzt für deine Mutter noch schwieriger?

Wenn jemand die Gebärdensprache nicht kann, ist es mit der Maske schwierig. Also muss er oder sie rausgehen, Abstand einhalten, und die Maske abnehmen. Nun ist meine Mutter ja in der Region gut verankert, die Leute kennen sie, wie beispielsweise der Metzger, und sie wissen, was zu tun ist. Am Anfang musste man sie vielleicht noch darauf hinweisen, jetzt aber nicht mehr.

Aber für viele andere geht das grad nicht so leicht.

In der Tat, für viele Gehörlose ist es gerade schwierig. Es gibt eine Kampagne vom Schweizer Gehörlosenbund, der darauf aufmerksam macht, dass sie auf das Lippenlesen angewiesen sind. Wenn das nicht geht, kann man seine Bedürfnisse auch schriftlich kommunizieren, also auf einen Zettel schreiben.

Stimmt, das geht ja auch. Naiv gefragt, braucht es immer auch den Mund, oder reicht die Gebärdensprache, wenn man sie kann?

Gebärdensprache reicht. Gehörlose untereinander können sich so problemlos unterhalten. Mit Gestik allein geht es, besser wäre es aber mit Mimik.

Du hast mal gesagt, dass die Gebärdensprache deine Muttersprache ist. In meinem Verständnis ist die Muttersprache das, was man erst mal nicht aktiv lernen muss, sondern quasi erwirbt.

Mein Vater und meine Mutter haben mit allen drei Kindern von Anfang an Gebärdensprache gesprochen. Ich habe das so erworben, wie du zum Beispiel Berndeutsch erworben hast.

Es kann dann allerdings vorkommen, etwa in der zweiten Generation, dass die Kinder beides nicht so richtig können.

Das ist ein Problem. Es ist von grossem Vorteil, wenn man eine Sprache wirklich gut kann. Da aber die deutsche Gebärdensprache und die deutsche Sprache vieles gemeinsam haben, ist das bei unserer Familie kein Problem. Meine Schwester zum Beispiel, die beim Fernsehen arbeitet, ist sehr sprachbegabt.

Bist du stolz auf sie? Wie ist das, wenn man die eigene Schwester im Fernsehen schaut? Ist man da besonders kritisch?

Ich bin sehr stolz auf beide Geschwister, Bruder und Schwester. Meine Schwester möchte aber auch, dass ich kritisch bin. Wir tauschen uns sehr oft aus. Ein ehrliches Feedback ist ihr sehr wichtig.

«Mein Vater und meine Mutter haben mit allen drei Kindern von Anfang an Gebärdensprache gesprochen»: Nevin Galmarini mit seiner Mutter Helen bei der Medaillenfeier nach seinem Olympiasieg 2018.
«Mein Vater und meine Mutter haben mit allen drei Kindern von Anfang an Gebärdensprache gesprochen»: Nevin Galmarini mit seiner Mutter Helen bei der Medaillenfeier nach seinem Olympiasieg 2018.
Bild: Keystone

Welche gravierenden Nachteile haben Gehörlose, auch wenn gerade nicht Pandemie ist?

Zum Beispiel in der Schule respektive in der Bildung.

Was für eine Ausbildung haben deine Eltern gemacht?

Mein Vater ist Konstrukteur und meine Mutter ist gelernte Stickerei-Zeichnerin, sie arbeitet heute allerdings als Alterspflegerin in einem Altersheim.

Und wie ist die Bildungssituation aktuell? Wie viele Gehörlose studieren an einer Uni?

Aktuell ist keine gehörlose Person am Studieren, das ist eine sehr traurige Tatsache.

Null.

Null. Anscheinend. Es ist ja schon wahnsinnig schwierig, den Besuch eines Gymnasiums zu organisieren. Es muss permanent ein Gebärdensprache-Dolmetscher dabei sein. Aber ich denke einfach: Hey, in der Schweiz sollte das doch möglich sein. Die Gehörlosen sind ein Teil der Gesellschaft, sie muss damit umgehen und ein solches Angebot aufbauen oder schaffen, damit hier Chancengleichheit ermöglicht wird.

Viele Menschen sind möglicherweise immer noch etwas unsicher, wie sie sich in einer Begegnung mit einem Gehörlosen verhalten müssen.

Mein Rat, entspannt bleiben! Die gehörlose Person wird dann schon sagen: Können Sie bitte Hochdeutsch sprechen, können Sie mir bitte in die Augen schauen, weil dann kann man besser mit dem Lippen lesen.

Das ist eine klare Botschaft. Nun bist du ja bekannt geworden durch deine Grussworte an die gehörlose Mutter, damals 2014 bei den Olympischen Spielen in Sotschi, nachdem du die Silbermedaille gewonnen hast. Das war spontan, oder? Wirst du die Geste nächstes Jahr wiederholen, falls du bei den Spielen in Peking wieder eine Medaille gewinnst?

Also, für die Gehörlosen-Organisationen stehe ich immer zur Verfügung, ich mache das von Herzen gern. Aber das in Sotschi war wirklich spontan, es ist einfach passiert. Wichtig ist, falls ich das mal wieder machen sollte, dass die Gehörlosen-Community einen Nutzen davon bekommt. Also damit ich etwas für sie machen kann, nicht für mich. Ich will aus dem Thema keinen Profit schlagen.