LebensgeschichtenAngela Merkel und das verlorene Glück von Zürich
Andrea Keller
12.12.2018
Verlorene Träume, gefundene Ideen, Geschichten über die Liebe, die Lust, das Leben: Das Künstler-Duo Andrea Keller und Patrick Bolle sammelten in ihrem «Fundbüro für Immaterielles» Meldungen, die daran erinnern, dass die wichtigsten Dinge in unserem Leben Nicht-Dinge sind. Jetzt ist dazu ein Buch erschienen.
Wenn Sie in einem durchschnittlichen europäischen Haushalt wohnen, stehen und liegen 10‘000 Objekte bei Ihnen herum. 10‘000 Dinge! Und in wenigen Tagen ist Weihnachten, da kommen klassischerweise ein paar weitere dazu: das neue iPad, der Strickpullover, die Foto-Tasse, das Bartpflege-Set.
Natürlich, daran kann man Freude haben – aber machen sie wirklich glücklich? Sind nicht die wichtigsten Dinge in unserem Leben Nicht-Dinge?
Andrea Keller und Patrick Bolle haben 2017 mit einer Kunstaktion in Zürich ein Gedankenexperiment gewagt, das den Blick weg von den Dingen und nach innen lenkt, an jene grossen und kleinen Bedeutsamkeiten erinnert, die sich nicht für Geld kaufen lassen: Sie führten ein Lost und Found für Immaterielles.
Das «wohl skurrilste Amt Zürichs», laut NZZ, ist eine schöne, etwas verrückte Erfolgsgeschichte. Es wurde über die Grenzen hinaus bekannt. Und dann passierte das Unerwartete: Die Namen der beiden Künstler fielen im Berliner Reichstag, Bundeskanzlerin Angela Merkel sass in der ersten Reihe. Irgendwann kam das ZDF zu Besuch und bald flatterte ein Buchvertrag ins Haus.
Das etwas andere Fundbüro ist mittlerweile geschlossen, aber die Idee lebt weiter: Im Buch «Guten Tag, haben Sie mein Glück gefunden?» geben Keller und Bolle nun Einblick ins Erlebte – und veröffentlichen auch einen Teil der Meldungen, die mal traurig, mal lustig, stets anregend sind.
Letztlich sind es neben Alltagsanekdoten die grossen Menschheitsthemen, die uns darin begegnen, in vielen verschiedenen Spielarten. Es geht um existenzielle Fragen, um Sinn und Erfahrungen, um ganz grundsätzliche Gefühle, Befindlich- und Begrifflichkeiten. Mal sind die Geschichten ernst, schwer, tief, mal leicht und auch lustig.
«Bluewin» publiziert fünf Meldungen sowie einen kurzen Auszug aus dem Schlusskapitel zum Glück, mit dem Andrea Keller auch auf den Titel Bezug nimmt und dem Ganzen ein «Happy End» schenkt.
Lost
Ich habe die Hoffnung verloren, dass die einstige grosse Liebe zwischen meinem Mann und mir noch einmal von uns zum Blühen gebracht und zum Leben erweckt werden kann. Ausserdem kann ich die Liebe zu meinem Mann nicht mehr fühlen, nicht mehr finden. Es ist so, als ob sie sich irgendwo versteckt hat oder von einem Berg lieblosen Umgangs miteinander verschüttet worden ist.
w, 60+
Lost
Ich habe den Glauben daran verloren, dass die Erwachsenen unfehlbar sind. Eben Erwachsene, die genau wissen, wie’s läuft auf dieser Welt, die wissen, was zu tun ist, auf jede Frage eine Antwort haben und mit jeder Antwort ein Wissen, eine Weisheit transportieren. Als junger Mensch konnte ich zu den Älteren aufschauen, ich habe mir Ratschläge geholt ... Nun weicht sich das auf, und ich denke, dass die Erwachsenen eben auch nur Menschen sind, eine Art ahnungslose Kinder mit Falten.
m, 20+
Found
Den Ausstieg aus dem Hamsterrad des Getriebenseins und Müssens. Ich habe Zeit – ohne Uhr. Wie lange kann ein Tag sein ohne Tun! Durch eine völlig äussere Ruhe habe ich somit auch innere Ruhe und Kraft gefunden. Ich bin vollgetankt – nicht nur mit dem Sonnenvitamin D, sondern mit Vitamin H. H steht für Hoffnung. Eine Hoffnung, die ich weitergeben will. Ich arbeite in der traumatherapeutischen Flüchtlingsunterstützung. Das bedeutet, dass ich mit extremen menschlichen Schicksalen konfrontiert bin, mit Folter und mit Tod, der Flucht vor dem Krieg. Zwei Wochen unterwegs mit Beduinen und Kamelen im Sinai. Zwei Wochen unterm Sternenhimmel schlafen, im 1000-Sterne-Hotel. Zwei Wochen fast ohne Menschengemachtes. Zwei Wochen einfachstes Leben.
w, 30+
Found
Ich habe einen eigenen, verlorenen und mündlich bereits gemeldeten und plötlich sehr vermissten Anteil meines Wesens wiedergefunden: Trauer. Sie gehört zu mir, wie mein Optimismus, meine Fröhlichkeit, mein Gleichmut, mein Gerechtigkeitssinn, mein Ärger. Wo meine frühere Fähigkeit zur Wut hingekommen ist, weiss ich im Moment nicht, aber ich glaube, sie ist nur verlegt und wird wieder zum Vorschein kommen. Darum verzichte ich auf eine Meldung. Sie wollen sicher wissen, wann und wo ich die Trauer gefunden habe? Das war am Freitagabend, ca. um 22 Uhr und inmitten einer Menge von über achtzig Menschen, die zu meiner Vernissage gekommen sind.
m, 80+
Lost
Ich habe die Stimme in meinem Kopf verloren, diese Stimme, die mir sagt, ich nähme zu viel Platz ein, die mir den Schleier von den Augen reisst, der mein Spiegelbild breiter macht, als es eigentlich ist, die den Ekel vor dem Essen hervorruft, das ich gemäss der Stimme nicht brauche. Das ganze Konstrukt: Anorexie.
w, 20+
Found
Die Achtung. Sie war so lange mit Füssen getreten und angeschrien worden, dass ich sie schon verloren glaubte. Doch dann entschloss ich mich, meine Selbstachtung ganz festzuhalten und stattdessen die Achtung vor meiner Chefin zu verlieren. Sie ist wunderschön. Nicht die Chefin, die Selbstachtung! Ich spaziere mit ihr wie frisch verliebt zu einem neuen Job. Auch dieser Job ist schön. Bringt noch weniger Geld als der letzte, aber wesentlich mehr Freude.
m, 60+
Happy End
(...) Vielleicht kennen Sie diese vermeintlichen, im Kopf konstruierten Kausalitäten: Wenn ich diese zehn Kilo abgenommen habe, die mich noch von meinem Idealgewicht trennen ... Wenn ich den richtigen Mann oder die richtige Frau gefunden habe ... Wenn ich die Beförderung erhalte, die doch eigentlich schon längst fällig wäre ... Wenn ich ... Wenn ich ... Wenn ich ... Dann! – Ja, wenn wir all das haben, wenn also die äusseren Umstände optimiert sind, perfekt, dann macht uns das glücklich.
Aber machen wir uns da nicht etwas vor? Stimmt das denn wirklich? Und wenn es stimmt, wie lange hält dieses Glücklichsein an? Solange das vermeintlich ideale «Setting» der Perfektion bestehen bleibt? Ist es nicht so, dass der kleine Nimmersatt in uns von Natur aus zu noch Erfolgreicheren, Schöneren, Klügeren herüberschielt und dabei auf die Idee kommt, noch mehr zu wollen, noch mehr zu brauchen, um dann vielleicht noch ein klein wenig glücklicher zu sein?
Apropos Nimmersatt: Dazu hat uns die Filmwelt einen pointierten, wunderbar illustrierenden Dialog geschenkt. In Oliver Stones Börsen-Krimi Wall Street: Geld schläft nicht unterhält sich ein junger Wall-Street-Banker namens Jacob mit einem gewissen Bretton, dem CEO einer Investmentbank. Der ungefähre Wortlaut:
Jacob: Was ist Ihre Zahl?
Bretton: Wie meinen Sie das?
Jacob: Wie viel Geld brauchen Sie auf dem Konto, um all das hinter sich zu lassen und einfach glücklich zu sein?
Bretton: ... Mehr!
Mehr. Immer mehr. Mehr als jetzt, mehr als andere. Wer so denkt und danach handelt, lässt dem Glück keine Chance. «Des Glückes Tod ist immer der Vergleich,» stellt der Psychologe Dieter Lange fest. Er ist seit über zwanzig Jahren als Referent, Trainer und Coach für Top-Führungskräfte im Einsatz, darunter bei international agierenden Grossunternehmen wie Bayer, Bertelsmann, Novartis und Siemens.
Lange sagt in einem seiner Videos, die es auf YouTube gibt: «Wenn Sie einen unglücklichen Menschen treffen, können Sie davon ausgehen, dass er vergleicht: nämlich das, was ist, mit dem, was er lieber hätte.»
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