Querschnittgelähmt «Konnte mich nicht mal mehr am Kopf kratzen» – nun läuft der Tetraplegiker Mzee Rennen 

Von Sulamith Ehrensperger

12.5.2020

Nach einem Unfall ist David Mzee querschnittsgelähmt. Dann vor einem Jahr diese Schlagzeile: Dank eines Neurosimulators aus Lausanne kann er wieder gehen, läuft gegen einen Catcher Car. Und: Er ist Sportlehrer.

Er würde nie wieder laufen können, hiess es nach dem Unfall. David Mzee konnte damals ja nicht einmal mehr selbstständig essen. Am Kopf kratzen? Keine Chance.

Vor einem Jahr dann hat Mzee weltweit für Schlagzeilen gesorgt: Der Tetraplegiker konnte dank eines Neurostimulators wieder ein paar Schritte machen. Und gerade letzte Woche brach der Zürcher wiederum einen Rekord: Er lief beim «Wings for Life World Run» mit, einem weltweiten Wohltätigkeitslauf für die Rückenmarksforschung.

Und Mzee trugen seine Beine weiter, als jemals zuvor seit seinem Unfall. «Ich schaffte 467 Meter in 32 Minuten, bevor mich der Catcher Car virtuell einholte – und ich brauchte erst nach 15 Minuten die erste Pause. Das sind gleich zwei Rekorde auf einmal», freut sich Mzee. 

Das Aufstehen aus dem Rollstuhl fällt ihm mittlerweile leichter. «Der schwierige Teil ist das Gehen. Es ist immer noch ein Kraftakt, weil ich mich bei jedem Schritt konzentrieren muss.»

Mzee ist ein Bewegungsmensch bis hinunter in den kleinen Zeh. Auch wenn er seinen Alltag im Rollstuhl meistert, unterrichtet er Jugendliche im Fach Sport an zwei Berufsschulen in Wetzikon. Er ist ein wichtiger Spieler in der Rollstuhlrugby-Nationalmannschaft, im Winter auf der Skipiste anzutreffen – und seit zwei Jahren gilt seine sportliche Leidenschaft dem Kitesurfen.

Der Salto, der sein Leben veränderte

Seit jenem Turnunfall ist Mzee vom sechsten Halswirbelkörper an abwärts querschnittgelähmt. Es passierte bei einem mehrfachen Salto vom Minitrampolin während der Ausbildung zum Sportlehrer. Doch sechseinhalb Jahre nach diesem Unfall machte er wieder Schritte.

Mzee sagte zu, als er vor vier Jahren gefragt wurde, ob er Teil eines wissenschaftlichen Experiments sein wolle. Das Ziel der Forscher der ETH Lausanne (EPFL) und des Lausanne University Hospital (CHUV) war herauszufinden: Können Elektroden Bewegung in der Wirbelsäule stimulieren, und zwar dort, wo die Gehirnsignale das Nervensystem nicht mehr erreichen?

Querschnittlähmung

Querschnittlähmung ist typischerweise die Folge eines Unfall bedingten Bruchs der Wirbelsäule mit Quetschung des Rückenmarks. Dabei werden die Nervenverbindungen zwischen Gehirn und jenen Muskeln, die unterhalb der Verletzung liegen, unterbrochen. Arme und Beine können nicht mehr willkürlich bewegt, Darm und Harnblase nicht mehr bewusst gesteuert werden. 

Es war kein Spaziergang: «Ich habe fünf Monate lang so hart trainiert, wie nie zuvor», erinnert er sich. Und vor allem war es ungewiss, wohin ihn der Weg führte, da auch die Forscher Neuland betraten. «Für mich war es ein All-in», schildert Mzee, «wir wussten nicht, ob wir es richtig machen. Es hätte auch sein können, dass die Stimulation negative Effekte auslöst.»

So was wie ein Formel-1-Rennfahrer

Die Fortschritte waren mikroklein, doch mit ganzem Körpereinsatz erkämpft: «Ich habe diese Zeit mit gemischten Gefühlen in Erinnerung. Ein halbes Jahr lang habe ich nur trainiert, gegessen und geschlafen. Immer wieder haben wir wochenlang nur Tests und Messungen gemacht.» Fernab von seiner Familie, allein im Welschland in einer kleinen Wohnung, habe er sich manchmal einsam gefühlt.

Es war ein entbehrender Kraftakt, der sich schliesslich gelohnt hat: Vor zwei Jahren gingen Videos vom Gelähmten, der wieder gehen kann, um die Welt. Dank seiner Einstellung und der Stimulation konnte er seine Beine wieder bewegen.

«Ich sei so etwas wie ein Formel-1-Rennfahrer, meinten die Ärzte.»

In Erinnerung geblieben ist ihm vor allem ein Moment: «Als ich gemerkt hatte, dass ich im Barren allein Schritte machen kann. Plötzlich merkte ich, dass ich einen Schritt vor den anderen bringe. Ein Riesengefühl.»

Heute kann Mzee mehrere Hundert Meter am Rollator gehen – «an guten Tagen über 400 Meter».

Wöchentlich trainiert er zwei- bis dreimal auf einem Laufband mit Gewichtsreduktionssystem. Das geht seit einem Jahr auch zu Hause, dank einer Crowdfunding-Aktion, bei der 25'000 Franken zusammengekommen sind.

Querschnittlähmung hin oder her: Mzee hat sein ETH-Studium in Bewegungswissenschaften als Jahrgangsbester abgeschlossen. Heute ist er leidenschaftlicher Sportlehrer, der seinen ganz eigenen Stil entwickelt hat. Das würden die Jugendlichen schätzen: «Weil ich vieles nicht vorzeigen kann, trauen sich gewisse Schüler vielleicht mehr zu, als wenn ich eine Idealform vorgebe, die sie erreichen müssen.»

Weitere Schritte in ein neues Leben

Wegen des Corona-Stillstands ist zurzeit kein Unterricht an der Berufsschule möglich. Seine Schülerinnen und Schüler hält er per e-Learning mit Sportaufgaben auf Trab.

Er selbst meistert diese Zeiten mit viel Sport, auf dem Laufband wie auch draussen im Rollstuhl. Er fokussiere sich in dieser speziellen Zeit auf das, was möglich ist. Am meisten hätten ihm Familie und Freunde gefehlt, meint der Sohn einer Schweizerin und eines Kenianers. 

«Jede Krise hat auch ihre gute Seite», sagt er.

Wie Mzee mit dem Schicksalsschlag umgeht, ist beeindruckend. Um Krisen zu meistern, vielleicht auch an Krisensituationen zu wachsen, brauche es Zuversicht, findet er: «Ich glaube, der Unfall hat mich auch gelehrt, dass es immer wieder Referenzpunkte gibt, die einem weiterbringen. Ich konnte am Anfang gar nichts mehr bewegen. Wieder selbstständig zu sein, ist schon ein Riesenziel.»

Er habe nie erwartet, dass seine Geschichte so viele Leute begeistern würde. Doch noch habe er einen langen Weg vor sich: «Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Wir sind immer noch am Forschen, machen Fortschritte auf der technischen Seite – und hoffentlich auch auf der neurologischen Seite.»

Wie sein Körper langfristig auf die Elektroden reagiert, weiss niemand. Doch Mzee möchte vorankommen: Mit der Stimulationstherapie, seinem Sportlerherz und seinem starken Willen will er weitere Schritte in einen Alltag mit mehr Bewegungsfreiheit schaffen.

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