LiteraturSchüler sperren Rektor ein: «Tatort»-Regisseur schreibt krassen Roman
Gregor Tholl, dpa
5.3.2018
Zwei Teenager lesen ihren Rektor betrunken auf der Strasse auf und sperren ihn in seiner eigenen Wohnung ein. Der Filmemacher Axel Ranisch («Dicke Mädchen», «Tatort: Babbeldasch») legt ein ziemlich verrücktes Romandebüt vor.
Vor einem Jahr machte sein improvisierter «Tatort»-Krimi «Babbeldasch» wegen der Dialekt sprechenden Laiendarsteller Schlagzeilen, am vergangenen Wochenende stand ein weiterer Ludwigshafen-«Tatort» von ihm im Programm des Ersten: der Gruselkrimi «Waldlust». Jetzt hat Axel Ranisch (34) ausserdem seinen ersten Roman geschrieben. Er trägt den Titel «Nackt über Berlin» und ist eine spannende Teenager-Story.
Seit Jahren mischt Ranisch mit Werken wie «Dicke Mädchen», «Ich fühl mich Disco» oder «Alki Alki» die oft dröge deutsche Filmwelt auf. Auch in seinem Debütroman geht es um zwei Aussenseiter, Jannik und Tai, beide 17, von Mitschülern fies Fetti und Fidschi genannt.
Der korpulente, musikbegeisterte Jannik ist - zu Beginn nur heimlich - ganz doll verliebt in seinen Freund mit vietnamesischen Wurzeln, der bis kurz vor Schluss des Buchs recht rätselhaft bleibt.
Mutprobe wird zum Martyrium
Eines Abends lässt sich der verträumte Jannik mit in eine Aktion seines Schwarms Tai hineinziehen. Sie lesen ihren sturzbetrunkenen Schulrektor Jens Lamprecht auf der Strasse auf und schaffen es, ihn unerkannt in seine Wohnung zu geleiten und schliessen ihn dort ein. Was erst wie ein Scherz oder eine Mutprobe für ein paar Stunden aussieht, entwickelt sich zu einem tagelangen Martyrium.
Tais Technik- und Hacker-Fähigkeiten geben den Schülern Kontrolle über Strom und Wasser in dem Appartement, sie spielen Gott, und sie lassen den zynisch und verlogen gewordenen Ex-Idealisten Lamprecht zu einem Entführten werden, zu einer Geisel in den eigenen vier Wänden.
Der Roman spielt in weiten Teilen im 24. Stock eines Luxushochhauses. Woher auch der übertragen gemeinte Titel des Romans herrührt - nackt über Berlin ist der gefangene Rektor nach einem Seelenstriptease.
Die Handlung führt ausserdem in die elterlichen Wohnungen der Protagonisten, zwischendurch auch in Berlins vietnamesische Markthallen Dong Xuan Center, nach Norddeutschland zur Beerdigung von Janniks Oma und natürlich in die Schule der beiden Teenager. Mal erzählt Jannik aus der Ich-Perspektive, mal ein Erzähler. Es geht um ganz grosse Themen: Liebe, Familie, Freundschaft, Vertrauen, Ehrlichkeit gegenüber anderen und sich selbst.
Romanschreiben vs. Filmemachen
«Dieser Roman bin ich, trotzdem ist alles erfunden», sagt Autor Ranisch und schwärmt vom Romanschreiben im Vergleich zum Filmemachen: «Es ist so viel direkter. Alle Umwege fallen weg. Keine Finanzierung, keine Unsummen an Geld, keine Technik, keine Motivsuche, keine inhaltlichen Kompromisse, keine Postproduktion. Ich schreibe es auf und jeder kann es lesen. Wahnsinn. Ich bekomme Raum und Zeit geschenkt, muss nicht auf jeder Seite ans Fortkommen der Handlung denken, kann mich links und rechts umsehen, auch mal in den Gedanken meiner Figuren versinken.»
Auf die Idee, einen Roamn zu schreiben, brachten ihn zwei Lektorinnen des Ullstein-Verlags, die von seinem Kinofilm «Ich fühl mich Disco» vor vier Jahren begeistert waren. Zunächst habe er aber keine Geschichte parat gehabt, die einen Roman ausgefüllt hätte, gibt Ranisch zu. «Ein Jahr später aber gab es eine Idee. Eine Filmidee eigentlich. Ich wollte Thorsten Merten einsperren. Ein Kammerspiel mit ihm allein.
Ein Mann erwacht in Gefangenschaft und weiss nicht warum. Auf der Suche nach der Identität seines Entführers durchstreift er sein Leben und stellt sich größeren Fragen: Wer hat ein Motiv, um sich an ihm zu rächen? Wann und wo hat er verbrannte Erde hinterlassen? War er ein guter Mensch? War er sein Leben wert?»
Die Idee zusammen mit dem Schauspieler Merten, den TV-Zuschauer zum Beispiel als Vorgesetzten der Weimarer «Tatort»-Kommissare kennen und der Ranisch nun auch beim Einlesen des «Nackt über Berlin»-Hörbuchs half - wurde immer komplexer: «Schliesslich kamen die Entführer Jannik und Tai dazu und mit ihnen weitere Geschichten, Familien und Welten. Plötzlich sprengte der Stoff die Grenzen eines 90-minütigen Films. Die Idee zum Roman war geboren.»
Im Mai 2017 habe er zu schreiben begonnen. In der Jannik-Figur gebe es einige Parallelen zu seinem Helden Flori aus «Ich fühl mich Disco». «Einige Szenen, die es damals nicht in den Film geschafft haben, sind in den Roman geflossen.»
Krasser als «Tschick»
Die Kapitel des Buchs sind datiert und spielen zwischen dem 4. September und 14. Oktober 2015. Die Sprache ist stellenweise derb, es wird auch mal gewichst und gekackt, aber das ist niemals nur aus Provokation, sondern stets sinnvoll und gibt dem Roman einen wunderbar unverkrampften Ton.
Ranischs Coming-of-Age- und Coming-out-Geschichte ist vielleicht der beste deutschsprachige Entwicklungsroman seit dem vielfach gefeierten, auf Bühnen gespielten und auch verfilmten «Tschick» von Wolfgang Herrndorf, der 2013 mit 48 Jahren starb. Im Vergleich zu Herrndorfs Roadmovie-Roman mit etwas jüngeren Protagonisten, ist Ranischs Werk allerdings sogar eine Spur krasser, weil es hier im Verlauf um einen kriminellen Akt auf Leben und Tod geht.
Ranisch selbst freut der Vergleich jedenfalls: «Ich mochte 'Tschick' sehr gern. Der Roman fühlte sich für mich nach Heimat an. Marzahner Außenseiter-Jungs und die grosse Liebe. Damit kann ich viel anfangen.»
Buchhinweis: Axel Ranisch: Nackt über Berlin, Ullstein Verlag, 384 Seiten, ISBN-9783961010134, ca. 23 Fr.
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