Regisseurin Erika Lust (1) «Mainstream-Pornos sind nicht die Antithese zu feministischen Pornos»

Von Carlotta Henggeler

6.2.2021

Entrepreneurin, Autorin/Regisseurin und Mutter Erika Lust, 43, in ihrem Büro in Barcelona. Sie steht für ethisch produzierte Sexfilme. Sie hat mit ihrem Mann Pablo eine Stiftung gegründet, um Eltern und Pädagogen beim Thema Teenager-Aufklärung zu unterstützen.
Entrepreneurin, Autorin/Regisseurin und Mutter Erika Lust, 43, in ihrem Büro in Barcelona. Sie steht für ethisch produzierte Sexfilme. Sie hat mit ihrem Mann Pablo eine Stiftung gegründet, um Eltern und Pädagogen beim Thema Teenager-Aufklärung zu unterstützen.
Monica Figueras

Pornoproduzentin Erika Lust über 50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz, wie ihr Job und Feminismus zusammenpassen und eine von ihr lancierte Aufklärungskampagne für Kinder und Teenager. Teil 2 des Interviews erscheint morgen, Sonntag.

Teil 2 des Interviews erschien am Sonntag.

Der Auslöser für Ihre Karriere war ein Pornofilm, den Sie mit 18 Jahren gesehen haben und der Sie abgetörnt hat. 

Erika Lust: Ich hatte das Gefühl, dass ethisch als auch inhaltlich etwas nicht stimmte. Alles sah sehr unrealistisch aus und es schien mir, dass der Fokus nicht auf dem Vergnügen lag, sondern auf der körperlichen Athletik der Darsteller. Beim Sex ging es meist um Penetration und es gab keinen Raum für Erkundung, Kommunikation und Gleichberechtigung zwischen männlichen und weiblichen Darstellern. Ich wusste, dass es so viel mehr an Sexualität gab als das, was in diesen Filmen gezeigt wurde. Die Pornos, die wir uns ansehen, werden von Technikern diktiert und nicht von Leuten, die sich wirklich um Sexualität und deren Darstellung kümmern.

Ihnen sei es wichtig, die Akteur*innen Ihrer Produktionen mit Respekt zu behandeln. Wie stellen Sie das sicher?

Der Kernwert meiner Arbeit ist es, ethisch produzierte Filme zu machen, was bedeutet, dass es ein Verständnis für das Einverständnis zwischen allen am Set gibt, einschliesslich der Crew, die sich der inhärenten Komplexität von Sexarbeit bewusst sein muss.

Konkret?

Wir bemühen uns, den Darstellern die Freiheit zu geben, ihre Meinungen und Gefühle zu äussern und die Dreharbeiten zu stoppen, wenn sie sich aus irgendeinem Grund unwohl fühlen. Ich habe einen Talent-Manager am Set, der sich ständig bei den Darstellern meldet, um sicherzustellen, dass sie alles haben, was sie brauchen, um ihre Sexualität auf entspannte Weise zu erkunden. Alles, was mit der Sexszene zu tun hat, muss mit den Darstellern besprochen werden, bevor sie zum Set gehen.

Und am Set?

Dort spreche ich vor dem Sexdreh mit ihnen, um noch einmal sicherzustellen, dass sie mit der Szene, die sie spielen sollen, einverstanden sind, und dann lasse ich sie ihren eigenen Weg gehen. Wir haben kein striktes Skript, nur eine allgemeine Stimmung, die vom Konzept des jeweiligen Films abhängt. Alle Szenen sind Freestyle und das macht sie interessanter und realistischer. 

Sie reden von ethisch produzierten Sexfilmen. 

Es gibt viele Gründe, warum ethisch produzierte Inhalte für Erwachsene hinter einer Paywall zugänglich sind. Das Geld wird benötigt, um Darsteller, Crew, Postproduktion und alle freiberuflichen Mitarbeiter fair zu bezahlen und um sicherzustellen, dass die Sexarbeit in einer sicheren Umgebung stattfindet. 

Im Jahr 2021 feiern wir 50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz. Am
7. Februar 1971 wurde es endgültig eingeführt. In Schweden haben die Frauen seit 1921 das Wahlrecht. Was sagen Sie dazu?

Solche Gedenkfeiern sind notwendig, damit wir über den ganzen Weg nachdenken, den wir bisher in Bezug auf die Frauenrechte gegangen sind, und wie viel Zeit wir aufgewendet haben, um das grundlegende, verfassungsmässige Wahlrecht für Frauen zu erreichen, in der Hoffnung, dass es als Lektion und Inspiration dienen kann, um die Schliessung der Geschlechterkluft in der heutigen Gesellschaft zu beschleunigen. Dies ist ein Teil unserer Geschichte, und ich glaube, dass sowohl Männer als auch Frauen heutzutage die Frauen ehren müssen, die hart dafür gekämpft haben, dass das Wahlrecht zu einer ‹normalen› Sache für alle wird.

Da bin ich einverstanden. 

Zur Person

Erika Lust wurde 1977 in Stockholm geboren. Sie studierte Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Menschenrecht und Feminismus. Seit 2000 lebt und arbeitet sie in Barcelona. Über das Theater kam sie zum Film. 2004 entstand der erste Kurzfilm «The Good Girl», den sie produzierte und bei dem sie auch Regie führte. Für ihren zweiten Film «Cinco historias para ellas» («Fünf Geschichten für sie») wurde sie mit mehreren Awards ausgezeichnet.
2008 drehte sie den experimentellen Erotikfilm «Barcelona Sex Project». 2014 entstand ihr erster erotischer Roman «Nächte in Barcelona».

Das erste Land, das Frauen das Wahlrecht erlaubte, war Neuseeland im Jahr 1893. Auf der anderen Seite gibt es Länder wie Saudi-Arabien, wo Frauen erst 2011 zum ersten Mal wählen durften. Geografie, Einwanderung, Krieg, das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern, Sexhandel, all diese Elemente spielten und spielen immer noch eine grosse Rolle im Leben von Frauen auf der Welt. Und lassen Sie uns nicht die Bildung vergessen. 62 Millionen Mädchen auf der Welt haben keinen Zugang zu einer Grundbildung, während sie sexueller Gewalt und Demütigung sowie frühen Ehen und Mutterschaft ausgesetzt sind. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, bis wir eine wirkliche Gleichstellung der Geschlechter erreicht haben, und ich hoffe, dass das Feiern der Rechte, die wir errungen haben, uns inspiriert, härter für die Rechte zu kämpfen, die wir noch nicht haben.

«Wir müssen die Frauen ehren, die hart dafür gekämpft haben, dass das Wahlrecht zu einer ‹normalen› Sache für alle wird»

Pornofilm-Produzentin und Feministin zu sein, ist für Sie kein Widerspruch. Zudem sind sie Mutter zweier Töchter. Wie haben Sie Ihren Beruf Ihren Kindern erklärt?

Mainstream-Pornos sind nicht die Antithese zu feministischen Pornos. Ich betrachte Pornos genauso wie jedes andere Filmmedium, denn ich bin eine Regisseurin, die sich aus einer künstlerischen Perspektive heraus für das Kino begeistert. Meine Töchter wissen, dass ich Filmemacherin bin und in meinen Filmen gibt es oft nackte Menschen, die Sex haben. Ich habe nie versucht, das zu verbergen oder zu lügen, aber natürlich haben sie meine Filme nie gesehen, weil sie nicht alt genug sind.

Sprechen Sie mit ihnen übers Thema Sex?

Von klein auf habe ich mit ihnen über Sex gesprochen, so wie ich auch über alles andere spreche, ob es nun um Geschlechterrollen, Rassismus, Essen oder Körpergrösse geht. Ich möchte, dass sie mit einem sicheren Gefühl über sich selbst, ihre eigene Sexualität und ihren Körper aufwachsen. Ich mache daraus keine grosse Sache oder ein peinliches Thema, ich möchte, dass sie wissen, dass sie zu mir kommen können, wenn sie Fragen haben. Diese Frage wird mir oft gestellt: ‹Wie willst du deinen Töchtern erzählen, was du machst?›

Kann ich mir vorstellen.

Jedes Mal versuche ich, andere Eltern daran zu erinnern, dass dies nicht mein Problem ist, sondern das Problem aller Väter und Mütter in der westlichen Welt. Denn nicht nur meine Mädchen werden Zugang zu Pornos haben, weil ich sie mache, sondern alle Kinder auf der Welt werden Zugang zu Pornos haben.



Stimmt.

Statistiken zeigen, dass das Alter, in dem man zum ersten Mal einen Porno ansieht, auf etwa neun oder zehn Jahre gesunken ist, aber die meisten Eltern sprechen das Thema Porno nicht einmal mit ihren Kindern an. Die meisten Schulen und Eltern sprechen immer noch nicht richtig mit ihren Kindern über Pornos und die Art und Weise, wie junge Menschen durch ihre Sehgewohnheiten geprägt werden; als Mutter selbst ist das für mich ein wichtiges Thema. Meine Töchter sind der Grund, warum ich zusammen mit meinem Mann Pablo das gemeinnützige Projekt ‹The Porn Conversation› gegründet habe.

Was ist das Ziel von ‹The Porn Conversation›?

Wir haben daran gearbeitet, Eltern und Pädagogen die Werkzeuge an die Hand zu geben, die sie brauchen, um mit Teenagern über Pornografie zu sprechen. 2021 werden wir das gemeinnützige Projekt mit der wertvollen Hilfe unserer neuen Projektmanagerin und klinischen Sexologin Avril Louise Clarke neu starten.

Welche Themen findet man auf ‹The Porn Conversation›?

Die Website ist voller praktischer Anleitungen, um Eltern zu ermutigen, mit ihren Kindern darüber zu sprechen, was sie online sehen. Sie sollen ihnen sagen, dass es normal ist, neugierig zu sein, aber dass das, was sie sehen werden, eine Darstellung von Sex ist und nicht, wie echter Sex tatsächlich aussieht. Dass viele der Menschen, die sie in diesen Videos sehen, nicht repräsentativ für den Durchschnittskörper sind und dass man Frauen und junge Mädchen nicht so behandeln sollte, wie sie in vielen der Pornos auf den kostenlosen Tube-Seiten behandelt werden. Die neue ‹The Porn Conversation› wird auch einen Knotenpunkt für Teenager beinhalten, wo sie anonym Fragen über Sex, Sexualität und Pubertät stellen können.

Teil 2 des Interviews erscheint morgen, Sonntag.

*Das Interview wurde schriftlich auf Englisch geführt.

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