Kolumne Und jetzt einfach mal alle tief Luft holen. Doch, das hilft

Michelle de Oliveira

5.11.2022

Statt sich vor Sorgen unterkriegen zu lassen, geht die Kolumnistin lieber am Strand spazieren.  (Symbolbild)
Statt sich vor Sorgen unterkriegen zu lassen, geht die Kolumnistin lieber am Strand spazieren.  (Symbolbild)
Bild: Getty Images

Die Welt scheint im Chaos zu versinken, Nachrichten mag die Kolumnistin schon gar nicht mehr lesen. Doch unterkriegen lassen will sie sich auch nicht. Was also tun?

Michelle de Oliveira

5.11.2022

Die Tage schrumpfen immer weiter, es wird kälter und dunkler. Die Dunkelheit ist aber nicht nur dem schwindenden Tageslicht geschuldet. Düster ist auch die Zeit, in der wir leben, finde ich.

Es herrscht noch immer Krieg; atomare Bedrohungen rücken in den Fokus; Frauen verschwinden, weil sie kein Kopftuch tragen; Rechtsrutsche in Nachbarländern sind Realität; die Energiekrise lässt sich kaum mehr abwenden.

Der Oktober war milde und milderte den Schmerz etwas, aber wir wissen auch: Schuld am schönen Wetter ist der Klimawandel.

Mein Mann legte neulich sein Handy weg, oder vielmehr warf er es aufs Sofa, und sagte: «Ich kann keine Nachrichten mehr lesen, das macht mich fertig.»

Zur Autorin: Michelle de Oliveira
Bild: zVg

Michelle de Oliveira ist Journalistin, Yogalehrerin, Mutter und immer auf der Suche nach Balance – nicht nur auf der Yogamatte. Ausserdem hat sie ein Faible für alles Spirituelle und Esoterische. In ihrer Kolumne berichtet sie über ihre Erfahrungen mit dem Unfassbaren. Seit Kurzem lebt sie mit ihrer Familie in Portugal.

Mir geht es genauso. Die Welt befindet sich natürlicherweise immer etwas in Schieflage, aber gerade kommt es mir vor, als stünde sie kopf.

Die Scheinwelt der Instagram-Influencer

Nun wäre es ein leichtes, die Augen zu verschliessen und sich zum Beispiel in die heile, farbige und luxuriöse Schein-Welt der Instagram-Influencer zu flüchten.

Ihnen dabei zuzusehen, wie sie in meterlangen Kleidern auf Santorini posieren, die Gesichter zur Maske retuschiert und einen Drink schlürfen, während die Sonne untergeht, und dabei zu vergessen, dass die Welt vielleicht bald das Gleiche tut.

Oder sich eine Fuck-it-all- und Scheiss-egal-Mentalität anzueignen, weil ja sowieso alles vor die Hunde geht, da kann man sich gleich mass- und rücksichtslos verhalten und sich um gar nichts mehr kümmern.

Oder man könnte sich ganz zurückziehen, ein Einsiedlerinnen-ähnliches Leben führen, irgendwo im Nirgendwo. Und dabei wahrscheinlich trotzdem die latente Angst verspüren, die Realität bringe auf einmal die sorgfältig aufgeblasene Bubble zum Platzen.

Der Weg zwischen den Extremen

Ich glaube, die Lösung liegt – wie so oft – darin, einen Mittelweg zu finden. Einen Weg zwischen den beiden Extremen.

Sich von der aktuellen Lage nicht in den Abgrund ziehen lassen, sich der Welt aber auch nicht komplett zu verschliessen. Das ist ohnehin kaum möglich, das Leben findet statt und bricht im Notfall mit Gewalt ein. Darum doch lieber die Tür aufmachen. So kann man bewusst entscheiden, wann man den Gast hineinlässt, oder eben wann man zum Beispiel die Nachrichten liest.

Ich widme mich einmal täglich den News, mal kürzer, mal etwas länger. Manchmal lese ich alle erschütternden Berichte, an anderen Tagen fokussiere ich mich auf good news. Wenn ich genug habe, begleite ich den Gast wieder hinaus und schliesse die Tür – oder eben den Browser mit den Nachrichten.

Sich auf kleinere Aktionen konzentrieren

Natürlich stellt mein Gehirn nicht automatisch ab, die Bilder im Kopf lassen sich nicht einfach wegklicken. In solchen Momenten spüre ich den Drang, selbst aktiv zu werden, ganz besonders stark.

Nur wie, ohne dass ich mich gleich um ein politisches Amt bemühen muss, mich auf die Strasse kleben, mir die Haare abschneiden oder Kunst mit Tomatensuppe übergiessen soll?

Ich konzentriere mich dann auf kleinere Aktionen.

Ich mache einen Spaziergang am Meer, sammle dabei Müll ein und dusche am Abend nur kurz. Ich unterschreibe eine Petition oder spende Geld. Ich motiviere meine Mitmenschen, öfter auf Fleisch und andere Produkte tierischen Ursprungs zu verzichten.

Und ich versuche, in meinem direkten Umfeld einen Unterschied zu machen: Ich kaufe für die Nachbarin ein, lächle Fremden zu, biete meine Hilfe an, hinterfrage meine Vorurteile und übe mich in Offenheit, Toleranz, dem «Leben-und-leben-lassen».

Und ich praktiziere «Tonglen», eine Meditationsform aus dem tibetischen Buddhismus.

«Tonglen» bedeutet «annehmen und aussenden». Dabei verbinde ich mich mit der Einatmung mit dem Leid anderer und schicke ihnen mit der Ausatmung Mitgefühl und Liebe. Durch die Meditation wird das eigene Mitgefühl gestärkt und ein weicherer Umgang mit schwierigen Situationen gefördert.

Alles zwecklos?

Manchmal hilft mir all das. Und an anderen Tagen komme ich mir lächerlich vor, wenn ich eine kleine Tüte voll Güsel gesammelt habe.

Was bringt das schon in Anbetracht der schätzungsweise mehr als 150 Millionen Tonnen Plastik, die in den Ozeanen schwimmen? Was hilft es, wenn ich auf tierische Nahrungsmittel verzichte, während der Fleischkonsum weltweit weiter steigt?

Was bringt meine Unterschrift auf einer Petition im Internet? Wenn ich meditiere und meine guten Gedanken in die Welt hinausschicke? Alles zwecklos?

Nein, das glaube ich bei allen Zweifeln nicht.

Einerseits hilft es mir gegen das Gefühl der überwältigenden Machtlosigkeit und gibt mir Mut und Zuversicht. Und anderseits glaube ich an gute Vibes, an Energien und vor allem glaube ich an die Macht der Veränderung im Kleinen.

Daran, dass wir alle etwas Licht in die dunkle Zeit bringen können.


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Tamara und Stefan Krapf leben auf dem Känguruhof in Bernhardzell SG. Das Paar lässt seine Tiere nicht mehr schlachten. Vom Bauernhof zum Lebenshof – begonnen hat alles mit der Liebe zu einem Ochsen.

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