Politisches Beben in London Boris Johnson vor dem Ende?

Von Hanspeter Künzler, London

6.7.2022

Es ist die bislang schwerste Krise für den krisenerfahrenen britischen Premier Boris Johnson.
Es ist die bislang schwerste Krise für den krisenerfahrenen britischen Premier Boris Johnson.
Bernat Armangue/AP/dpa (Archivbild)

Einmal mehr ist der britische Premier Boris Johnson der Lüge überführt worden, zahlreiche Regierungsmitglieder treten zurück. Der Druck auf Johnson, es ihnen gleichzutun, wächst stündlich.

Von Hanspeter Künzler, London

6.7.2022

In den Augen von Boris Johnson war es eine Bagatelle. Zwei Männer hatten den konservativen Parlamentarier Chris Pincher beschuldigt, sie in einem Privatklub sexuell belästigt zu haben. Pincher, ein überzeugter Supporter von Johnson, war von diesem zum Dank für seine Loyalität erst im Februar zum stellvertretenden Chief Whip befördert worden. In dieser Rolle hatte er dafür zu sorgen, dass die Abgeordneten bei parlamentarischen Abstimmungen zugegen waren und ihre Stimme gemäss Parteilinie abgaben.

Nachdem die Anschuldigungen gegen Pincher bekannt wurden, dauerte es noch fast einen Tag, ehe dieser sein Amt niederlegte. Seine lockere Entschuldigung – er habe halt viel zu viel getrunken – deutete an, dass man das Vergehen in seinen Kreisen als Kavaliersdelikt erachtete.

Alsbald kursierten Gerüchte, wonach Pincher nicht zum ersten Mal ungut aufgefallen war. Johnson selber soll ihn unter Freunden als «handsy» (also: ein Mann mit wandernden Händen) beschrieben haben. Trotzdem stritt Johnson vehement ab, von vergangenen Vergehen gewusst zu haben, als er Pincher das neue Amt übertrug.

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06.07.2022

Stunden, bis Johnson eine Ausrede einfiel

Das liess sich Lord McDonald, bis im Herbst 2020 der höchste Beamte im Staatsapparat, nicht bieten. Am Dienstagmorgen um 7 Uhr 30 liess er verlauten, Johnson sei während eines persönlichen Treffens sehr wohl über die Geschichte informiert worden. Es dauerte mehrere Stunden, bis Johnson eine Ausrede einfiel.

Er habe das Meeting schlicht vergessen, liess er verkünden. Die Erklärung war atemberaubend in ihrer schnoddrigen Arroganz und liess die Parteifreundinnen und -freunde, die Johnson trotz aller Lügen, Unwahrheiten und opportunistischen Kehrtwendungen immer wieder verteidigt hatten, in einem ziemlich unguten Licht dastehen.

Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Am späten Nachmittag legten sowohl Kanzler Sunak als auch Gesundheitsminister Javid ihr Amt nieder. In ihren Erklärungen nahmen die beiden Männer kein Blatt vor den Mund. «Ich kann dieser Regierung nicht mehr mit guten Gewissen dienen», liess Javid verlauten.

«Vom Instinkt her bin ich ein Teamplayer, aber das britische Volk hat ein Recht darauf, dass seine Regierung mit Integrität handelt.» Und: «Es tut mir leid, sagen zu müssen, dass es mir klar erscheint, dass sich die Situation unter Deiner Führung nicht ändern wird. Darum hast Du mein Vertrauen verloren.»

Noch am gleichen Abend folgten mehrere konservative Regierungsmitglieder ihrem Beispiel. Im Verlauf des Mittwoch verwandelte sich der Bach in einen reissenden Fluss. Im Schreibmoment – kurz nach 15 Uhr – haben 24 Tory-Vertreter ihr Amt niedergelegt. Wichtige Parteimitglieder forderten mit offenen Briefen, Tweets und in Interviews mit der BBC den Rücktritt des Premierministers.

Niemand kann ihn zum Rücktritt zwingen

Johnson hat bis jetzt auf die Krise genau so reagiert, wie man es von ihm spätestens seit dem sogenannten «Partygate» (seine wiederholten und wie sich herausstellte falschen Beteuerungen, es hätten während des Lockdowns keine Parties in seinem Haus stattgefunden) gewohnt ist: Er beteuert, dass er sich durch nichts und niemand davon ablenken lasse, seine Aufgabe als Premierminister zu erledigen. Sprich: Mittel und Umstände sind ihm letztlich egal, wenn er auf diese Weise sein Ziel erreicht – eine Haltung, die sich bei seinen Brexit-Bemühungen bestens bewährt hatte.

Zurücktreten will er jedenfalls nicht. Tatsächlich kann ihn derzeit niemand zu diesem Schritt zwingen. Erst vor einem Monat hatte er ein Vertrauensvotum betreffend seine Rolle als Parteiführer gewonnen. Die Regeln sehen vor, dass seine Stellung mindestens ein Jahr lang nicht mehr angefochten werden kann.

Das Resultat dürfte sich als Pyrrhussieg entpuppen: Nicht weniger als 41 Prozent konservative Parlamentarier hatten damals gegen Johnson gestimmt. Bereits sollen Bestrebungen im Gange sein, die Regeln dahin gehend zu ändern, dass schon in wenigen Wochen ein neuerliches Votum lanciert werden könnte. So oder so steckt Johnson in einer diffizilen Lage.

Weitere Kabinettsmitglieder stellen sich gegen Johnson

Wie Medien am Mittwoch berichteten, wollte eine Delegation aus mehreren Kabinettsmitgliedern dem konservativen Premierminister noch am Abend im Regierungssitz 10 Downing Street den Rücktritt nahelegen. Darunter soll unter anderem der erst am Dienstag auf seinen Posten berufene Finanzminister Nadhim Zahawi sein. Sein Vorgänger Rishi Sunak hatte nur Stunden vorher das Amt aus Protest gegen Johnsons Führungsstil niedergelegt.

Auch Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng setze sich inzwischen für einen Rücktritt des Premiers ein, berichtete der Sky-News-Reporter Sam Coates. Berichten zufolge soll sich auch Bau- und Wohnungsminister Michael Gove von Johnson abgewendet haben. Zuvor waren rund drei Dutzend Abgeordnete von ihren Regierungs- und Parteiämtern zurückgetreten.

Johnson widersetzt sich Rücktrittsforderung von Ministern

Der britische Premierminister Boris Johnson hat sich britischen Medienberichten zufolge einer Rücktrittsforderung durch eine Reihe von Kabinettsmitgliedern widersetzt. Demnach berief er sich auf «enorm wichtige Probleme, mit denen das Land konfrontiert ist.» Eine Abordnung von Kabinettsmitgliedern hatte ihn am Mittwochabend in seinem Büro in der 10 Downing Street aufgesucht, um dort auf seinen Rücktritt zu drängen.

Bereits früher am Tag hatte Johnson trotzig auf die jüngsten Rücktritte aus seinem Kabinett reagiert. Seine Aufgabe als Regierungschef sei es, weiter zu arbeiten, sagte Johnson, nachdem Finanzminister Rishi Sunak, Gesundheitsminister Sajid Javid und eine Reihe weiterer Mitarbeiter der Regierung aus Protest gegen ihn zurückgetreten waren. Auch andere Mitglieder seiner Konservativen Partei forderten seinen Rücktritt.

Tory-Partei in der Krise

Nur schon die Neubesetzung der verwaisten Stellen mit kompetenten Kräften aus den Reihen der ihm wohlgesinnten Parlamentarier dürfte schwierig werden. Dabei ist der Tumult innen- und aussenpolitisch gesehen in einem denkbar ungünstigen Moment ausgebrochen. Das Land wird von Inflation und Nachschubproblemen gebeutelt, Schottland träumt erneut von der Unabhängigkeit, der Krieg in der Ukraine wütet weiter (mit seinem Einsatz für die Ukraine hatte Johnson wohl auch gehofft, von den Problemen im eigenen Land ablenken zu können).

Ausserdem zeigen die Ereignisse dieser Tage, dass die Tory-Partei zutiefst gespalten ist und sich schwertun dürfte, auf die nächsten Unterhauswahlen hin eine geeinte Front zu präsentieren. Im Übrigen werden weder Sunak noch Javid ganz ungeschoren aus der Situation hervorgehen: Es drängt sich der Verdacht auf, dass die beiden Rücktritte opportunistische Gesten waren, mit denen sie Integrität markieren wollten, um sich für künftige wichtige Rollen in Position zu manövrieren.

Ausserdem stellt sich die Frage, warum sie die mangelnde Integrität von Boris Johnson ausgerechnet jetzt nicht mehr tolerieren können. Hätten sie nicht schon viel früher agieren müssen, wenn sie daran zweifelten?