JahrestagChina will Erinnerung an Tiananmen-Massaker in Hongkong ausmerzen
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4.6.2021
Auf dem Festland ist ein Gedenken an die Opfer des 4. Juni 1989 schon länger untersagt. Nun greift Peking auch in der halbautonomen Metropole durch. Doch die Menschen lassen sich das Andenken nicht nehmen.
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04.06.2021, 18:02
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Schon seit Jahrzehnten versucht China, die Erinnerung an das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 in Peking aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Einzig in den halbautonomen Sonderverwaltungszonen Macau und Hongkong konnte noch der Opfer der Studentenproteste gedacht werden, die Hunderte, vielleicht Tausende Menschen das Leben kosteten. In Hongkong ist es damit nun anscheinend vorbei.
Bis 2019 kamen am Jahrestag des Massakers, dem 4. Juni, jedes Jahr Zehntausende Menschen im Hongkonger Victoria Park zusammen, entzündeten Kerzen und sangen gemeinsam, um an die vielen Opfer zu erinnern. Mit Verweis auf die Corona-Pandemie untersagten die Behörden die Gedenkfeiern nun das zweite Jahr in Folge. Und das, obwohl es seit sechs Wochen keinen aktiven Corona-Fall in Hongkong mehr gegeben hat.
Ein Museum, das in einer Ausstellung das Vorgehen der Volksbefreiungsarmee gegen die Proteste schilderte, musste kurz vor dem Jahrestag am Freitag auf Druck der Behörden schliessen. Und mit Chow Hang Tung wurde am Freitag auch noch die stellvertretende Vorsitzende der Organisation, die das Museum betreibt und die jährlichen Mahnwachen organisiert, festgenommen.
Sicherheitsgesetz erlaubt drastische Strafen
Auf dem chinesischen Festland ist die jüngere Generation weitgehend ohne Wissen um das Massaker oder gar eine Diskussion darüber aufgewachsen, aber die Versuche, das Gedenken auch in Hongkong zu unterdrücken, machen deutlich, wie sehr Chinas Führung ihre Kontrolle über die Stadt ausweitet. Ein Auslöser dafür waren massive Proteste gegen Peking 2019, die sich über Monate hinzogen und immer wieder zu Zusammenstössen mit der Polizei führten.
Als Folge ging die chinesische Regierung schärfer gegen Widerspruch aus der ehemaligen britischen Kolonie vor, der bei der Rückgabe an China 1997 versprochen worden war, es werde seine Freiheiten 50 Jahre lang weitgehend beibehalten können.
Seit den Antiregierungsprotesten hat China ein weitreichendes Sicherheitsgesetz verabschiedet, durch das solche Proteste wie in Hongkong härter bestraft werden können. Die Behörden der Stadt haben praktisch alle lautstarken und prominenten Mitglieder der prodemokratischen Bewegung ins Visier genommen. Inzwischen befinden sich die meisten in Haft oder sind aus der Stadt geflüchtet.
Trotz des Verbots kursierten auch in diesem Jahr Appelle an die Hongkonger, im Privaten an das Massaker von 1989 zu erinnern und am Freitagabend um 20 Uhr eine Kerze anzuzünden. Chow wurde nach Angaben der Polizei genau deshalb festgenommen, weil sie eine verbotene Veranstaltung beworben habe.
Aufrufe in den sozialen Medien
In den sozialen Medien wurde dazu aufgerufen, am Jahrestag schwarz zu tragen. Die örtliche Zeitung «Ming Pao» schlug ihren Lesern in der vergangenen Woche vor, die Zahlen 4 und 6 auf ihre Lichtschalter zu schreiben – in Gedenken an den 4. Juni –, so dass jedes Ein- und Ausschalten des Lichts zu einem Zeichen der Erinnerung werde.
Chan Kin Wing wollte privat der Opfer gedenken, nachdem er viele Jahre an den Feierlichkeiten im Victoria Park teilgenommen hat. «Ich hatte das Glück, in Hongkong geboren zu werden», sagt er. «Wenn ich auf dem Festland geboren worden wäre, hätte ich einer der Studenten auf dem Tiananmen-Platz sein können.» Chans Eltern flüchteten in den 60er Jahren von China nach Hongkong. «Am 4. Juni 1989 wurde ganz Hongkong Zeuge, wie Studenten von einem korrupten Regime massakriert wurden.»
In diesem Jahr wollte er sich schwarz kleiden und sein Profilbild in den sozialen Medien ändern, so dass es eine Kerze in der Dunkelheit zeigt. «Ich habe beschlossen, den 4. Juni nie zu vergessen und bemühe mich, die Erinnerungen daran weiterzugeben, damit er niemals vergessen wird», erklärt er.
Tiananmen-Mütter fordert Freigabe der Akten
Auf dem Festland veröffentlichte die Gruppe der Tiananmen-Mütter einen Appell im Internet und forderte die regierende Kommunistische Partei auf, endlich alle Akten zu dem Massaker freizugeben. Ausserdem müsse eine Entschädigung an die Angehörigen der Toten und die Verletzten gezahlt werden und die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.
«Wir freuen uns auf den Tag, an dem die KP und die chinesische Regierung ehrlich und mutig die Dinge richtigstellen und gemäss dem Gesetz die Verantwortung für das unmenschliche Massaker von 1989 übernehmen», erklärte die Gruppe.
Die Regierung scheint jedoch eher daran interessiert, solche Aufforderungen im Sande verlaufen zu lassen. 62 Mitglieder der Tiananmen-Mütter sind seit der Gründung in den späten 90er Jahren bereits gestorben, wie die Gruppe erklärt. Viele junge Chinesen seien »aufgewachsen mit einem falschen Gefühl des strahlenden Erfolgs und einer erzwungenen Glorifizierung der Regierung». Sie wüssten nicht, was am 4. Juni 1989 passiert sei oder weigerten sich, es zu glauben.
Verhaftungen prominenter Aktivisten in Hongkong
In Hongkong haben die Verhaftungen und Verurteilungen prominenter Aktivisten einen abschreckenden Effekt auf diejenigen, die in der Vergangenheit an den Gedenkfeiern teilnahmen, wie Chow erklärt, die stellvertretende Vorsitzende der Hongkonger Allianz zur Unterstützung Patriotischer Demokratischer Bewegungen in China. Viele hätten Angst und fürchteten Konsequenzen, wenn sie an die Opfer erinnerten.
Chow träumt davon, dass eines Tages in China und Hongkong Demokratie herrschen. «Das ist es wert, dafür zu kämpfen», sagt sie. «Wenn wir eines Tages nicht mehr über Tiananmen sprechen können, dann würde das bedeuten, dass Hongkong vollständig an die chinesische Gesellschaft angepasst wurde.»