US-Aussenpolitik nach 9/11 Wie ein wilder Stier 

Von Philipp Dahm

11.9.2021

Diese fünf Folgen der Attacke auf das World Trade Center sind kaum bekannt

Diese fünf Folgen der Attacke auf das World Trade Center sind kaum bekannt

Der Tag, an dem der Himmel über New York grau wurde: Die Bilder von 9/11 sind in das Gedächtnis ganzer Generationen eingebrannt. So manche Folge des Anschlags war dabei nicht vorhersehbar. Fünf Fakten im Video.

09.09.2021

Zornig haben die USA nach dem 11. September 2001 nach Schuldigen gesucht. 20 Jahre später ist Osama bin Laden zwar tot und Al-Kaida dezimiert, doch das Sicherheitsproblem hat sich eher verschärft.

Von Philipp Dahm

Der Tag, der die Welt veränderte, jährt sich heute nun schon zum 20. Mal. Kurz zuvor haben die USA den längsten Krieg ihrer Geschichte beendet. Der Abzug hätte eigentlich heute enden sollen, doch wegen der Bedeutung des Datums und aus Angst vor Anschlägen wurde der Termin auf den 31. August verlegt.

«Unsere Lebensart, unsere Freiheit wurde angegriffen», sagt George W. Bush am Abend der Attacke im TV. «Die Sucher nach den Hintermännern dieser Untaten läuft. Wir werden keinen Unterschied machen zwischen den Terroristen, die diese Taten vollbracht haben, und den, die sie beherbergen.»

Wie alles begann: Andrew Card, Stabschef des Weissen Hauses, flüstert US-Präsident George W. Bush während eines Besuchs der Emma E. Booker Elementary School in Sarasota, Florida, am 11. September 2001 etwas ins Ohr. Er sagt: «America is under attack.»
Wie alles begann: Andrew Card, Stabschef des Weissen Hauses, flüstert US-Präsident George W. Bush während eines Besuchs der Emma E. Booker Elementary School in Sarasota, Florida, am 11. September 2001 etwas ins Ohr. Er sagt: «America is under attack.»
Keystone

Die Attentate haben ein Problem offenbart: Wie bekämpft man Terroristen, die transnational arbeiten? Washington antwortet mit dem War on Terror, der bis heute andauert. Zwei Staaten bekommen die geballte Wut zu spüren: Die Kampagne gegen den Irak dauert von 2003 bis 2011, die in Afghanistan von 2001 bis 2021.

Islamistische Hydra

Erklärtes Ziel des so getauften War on Terror war die Auslöschung des al-Qaida-Netzwerks. Vordergründig mag das mit der Liquidierung des Kopfes hinter den Anschlägen erreicht worden sein, doch auch nach Osama bin Ladens Tötung im Jahr 2011 geht der Kampf der USA weiter. Erst der Abzug aus Kabul am 31. August 2021 beendet nach 20 Jahren die Mission.

Al-Qaida hat in Afghanistan sicherlich nicht mehr eine Basis wie noch anno 2001, und auch Staaten wie Saudi-Arabien haben sich von den Extremisten abgewandt und ihnen gar Staatsbürgerschaften entzogen – wie im Falle von bin Laden. Doch regional existieren nach wie vor nicht nur im Kaukasus, sondern auch in Ländern wie dem Jemen oder Syrien noch al-Qaida-Zellen.

Der radikale Islamismus ist damit nicht verschwunden. Im Gegenteil: Andere Gruppen wie der so genannte Islamische Staat, die al-Nusra-Front oder Boko Haram füllen die Lücke, verüben weiterhin den Krieg gegen den Westen und bald auch Anschläge nach Europa. 

Sicherheitsmassnahmen im Gefängnis von Fresnes am 24. Januar 2018 kurz vor einem Prozess gegen eine Beteiligten der Paris Terroranschläge vom 13. November 2015.
Sicherheitsmassnahmen im Gefängnis von Fresnes am 24. Januar 2018 kurz vor einem Prozess gegen eine Beteiligten der Paris Terroranschläge vom 13. November 2015.
Keystone

Teile und herrsche

Dasselbe gilt für die einstigen Kriegsgegner: Die Sicherheitslage im Irak ist unterirdisch, Anschläge an der Tagesordnung – und der Staat ist zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden gespaltener denn je, während Amerika seinen Ruf in dem Land völlig verspielt hat, wie etwa die Reaktion der Iraker auf die Tötung des iranischen Generals Qasem Soleimani in Baghdad im Januar 2020 gezeigt hat.



In Afghanistan hat das Weisse Haus bewusst darauf verzichtet, einen stabilen Staat zu etablieren. So haben die USA dort regionale Milizen aufgebaut, die nicht an Kabul, sondern Washington rapportieren. Als Präsident Hamid Karzai dagegen protestiert, werden ihm solange Dollar in den Mund geworfen, bis er über die Schwächung der Regierungsmacht schweigt.

Wen kann es unter solchen Voraussetzungen verwundern, dass jegliche Loyalität in sich zusammenfällt, sobald die USA das Feld räumen? Es ist zwar mehr als fraglich, ob jedwede Art von nation building im Kaukasus je funktioniert hätte, doch Afghanistan konnte nur scheitern, wenn stets nach dem alten Kolonialisten-Motto Divide et impera, also «Teile und herrsche», gehandelt wird.

Oktober 2019: Ein US-Konvoi fährt durch die kurdische Stadt Duhok im Irak, nachdem die die USA beschlossen haben, ihre Truppen aus Nord-Syrien zurückzuziehen.
Oktober 2019: Ein US-Konvoi fährt durch die kurdische Stadt Duhok im Irak, nachdem die die USA beschlossen haben, ihre Truppen aus Nord-Syrien zurückzuziehen.
Keystone

Politik mit zweierlei Ellen

Ein Problem war und bleibt auch die Zweischneidigkeit der amerikanischen Nahost-Politik: Einerseits soll der radikale Islamismus bekämpft werden, andererseits halten die USA eine enge Verbindung zum saudischen Herrscherhaus, obwohl Riad weltweit Förderer eines besonders strengen Islams ist.

Einerseits malt sich das Weisse Haus gern Werte wie das Eintreten für die Menschenrechte auf die Fahnen, andererseits schaut Washington weg, wenn Saudi-Arabien im Jemen humanitäre Katastrophen herbeibombt.  Und natürlich sollen im Irak alle Gruppen fair beteiligt werden, aber dann bitteschön mit weniger Schiiten, um dem Iran ja nicht zu viel Einfluss bekommen zu lassen.

20. März 2018: Der frühere US-Präsident Donald Trump (rechts) präsentiert im Beisein des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman US-Rüstungsverkäufe in Höhe von 12.5 Milliarden Dollar an Riad. Sechseinhalb Monate später wird Journalist Jamal Khashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul brutal ermordet.
20. März 2018: Der frühere US-Präsident Donald Trump (rechts) präsentiert im Beisein des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman US-Rüstungsverkäufe in Höhe von 12.5 Milliarden Dollar an Riad. Sechseinhalb Monate später wird Journalist Jamal Khashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul brutal ermordet.
Keystone

Doch der War on Terror umfasst nicht bloss Schauplätze in Afrika und dem Nahen Osten: Er wird auch offen vor der eigenen Haustür geführt. In den Jahren nach den Anschlägen haben viele Staaten eine enorme Ausweitung der staatlichen Befugnisse durchgedrückt, die die individuellen Rechte und Freiheiten stark ausgehöhlt hat, wie Whistleblower Edward Snowden publik gemacht hat.

2011 hätte Schluss sein müssen

20 Jahre nach 9/11 kann ein Fazit also nur ernüchternd ausfallen. Zuerst konnte man noch den Kopf schütteln, wenn man Geschichten von einfach gestrickten hillbillies in North Carolina hört, die nach den Anschlägen bewaffnet zu Brücken gefahren sind, um diese vor Terroristen zu schützen.

Wer anschliessend die Bilder aus New York, das Ausmass der Zerstörung und die Trauer der Amerikaner gesehen hat, wird Mitgefühl und Solidarität empfunden haben. Was dann jedoch folgte, waren Wut und das Bedürfnis nach Rache – insbesondere in den ersten zehn Jahren nach der Katastrophe. Wie ein wilder Stier ist Onkel Sam über den Planeten galoppiert: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

20 Jahre 9/11: Er war im Namen der Schweiz vor Ort, als das Entsetzliche geschah

20 Jahre 9/11: Er war im Namen der Schweiz vor Ort, als das Entsetzliche geschah

Christian Blickenstorfer ist Botschafter in Washington, als islamistische Terroristen die USA am 11. September 2001 angreifen: Wie er den Moment erlebte, erzählt der pensionierte Top-Diplomat im Gespräch mit «blue News».

10.09.2021

Doch spätestens nach Osama bin Ladens Tötung 2011 hätte die Nation aus ihrem Blutrausch erwachen und umdenken müssen. Heute ist die Welt ist eindeutig weniger sicher als damals  – aber 20 Jahre später ist es leider zu spät, das Ruder herumzudrehen. Hoffen wir also, dass es dabei bleibt, dass 9/11 ein einmalig schlimmes Erlebnis bleibt.