Schusswaffenangriffe Stets droht eine Schiesserei: Wie sich die USA mit der Gefahr arrangieren

von Ted Anthony, AP/uri

6.8.2019

Die Sekretärin einer Schule in Utah wird vom Sheriff im Schusswaffengebrauch unterrichtet, um sich gegen Angreifer an ihrer Schule zu wehren.
Die Sekretärin einer Schule in Utah wird vom Sheriff im Schusswaffengebrauch unterrichtet, um sich gegen Angreifer an ihrer Schule zu wehren.
Bild: Keystone

In einer Zeit gehäufter Schusswaffenangriffe fragen sich immer mehr Amerikaner, was die Entwicklung für sie selbst und die Gesellschaft bedeutet. Ausgehen und Veranstaltungen besuchen – geht das noch?

Ohio: ein Ausgehviertel, in dem sich Freunde an einem lauen Samstagabend auf einen Drink trafen. Texas: ein Supermarkt, in dem Kunden ihren Kindern alles Nötige für das neue Schuljahr besorgen konnten. Kalifornien: ein Festival für Familien rund um den Knoblauch, die wichtigste Feldfrucht der Gegend. Zwei aufeinander folgende Sommerwochenenden, weniger als sieben Tage. Das Leben von mehr als 30 Mitmenschen innerhalb von Sekunden ausgelöscht, an öffentlichen Orten, wie sie von weiten Teilen der US-Bevölkerung regelmässig aufgesucht werden, ohne dass jemand darüber nachdenkt.

Aber vielleicht ist das jetzt nicht mehr der Fall. «Ich gehe nicht gern aus, besonders ohne meinen Mann. Es ist wirklich beängstigend, allein wegzugehen», sagt die 21-jährige Vorschullehrerin Courtney Grier vor einem Lebensmittelladen in Virginia Beach. Dort tötete ein Schütze Ende Mai zwölf Menschen in einem städtischen Gebäude. Aber, sagt Grier, «man muss immer noch zum Lebensmittelladen gehen, um das Abendessen einzukaufen. Man kann nicht einfach nicht gehen.»

Man kann nicht einfach nicht gehen

Das könnte ein passender Slogan für Amerika um das Jahr 2019 sein: Man kann nicht einfach nicht gehen. Das gemeinschaftliche Leben in der Öffentlichkeit war von Anfang an eine der Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft. Das mag in der Ära von Smartphones etwas nachgelassen haben. Aber Festivals, das abendliche Ausgehen und besonders das Einkaufen sind weiterhin gemeinschaftliche Aktivitäten. Und nun wurden diese öffentlichen Orte innerhalb von weniger als einer Woche Schauplatz tödlicher Überfälle mit Schusswaffen.



Hinzu kommen weitere alltägliche Einrichtungen, an denen Schützen das Feuer auf Menschen eröffneten – Gotteshäuser, Kinos, Einkaufszentren, eine Zeitungsredaktion und, natürlich, Schulen. Die Frage drängt sich auf: Beginnen diese unerwarteten Ereignisse, Amerika schrittweise grundlegend zu verändern?

Die Orte, an denen in der vergangenen Woche Menschen getötet wurden, sind im Prinzip jedem Amerikaner vertraut – jeder trifft sich an solchen Orten öffentlich und informell mit anderen Menschen, gerade im Sommer. Jeder kann sich also potenziell betroffen und bedroht fühlen. Die Gefahr, als Amerikaner in einen solchen Überfall zu geraten, ist zwar weiterhin äusserst gering. Doch die zuweilen toxische Mischung aus dem Geschehen selbst, den Echokammern der sozialen Medien und verzerrenden Faktoren des 24stündigen Nachrichtenzyklus kann das persönliche Empfinden beeinflussen.

In El Paso, Texas, trauert Felipe Avila vor dem Supermarkt, in dem bei einer Attacke mindestens 22 Menschen starben.
In El Paso, Texas, trauert Felipe Avila vor dem Supermarkt, in dem bei einer Attacke mindestens 22 Menschen starben.
Bild: AP

Sind ganz normale Orte noch sicher?

Die 22 Toten im texanischen El Paso, die neun in Dayton, Ohio, und die drei im kalifornischen Gilroy haben im Netz zu vielen Diskussionen geführt. Vor allem zwei Fragen tauchen immer wieder auf: Sind ganz normale Orte noch sicher? Sollten wir davon ausgehen, dass sie es sind?

Im Grossen und Ganzen gibt es zwei Reaktionen, die sich manchmal überschneiden. Die eine ist, sich etwas zurückzuhalten, vorsichtiger zu sein. Die andere ist, nicht klein beizugeben. Letzteren Ansatz hat der frühere Marineinfanterist Richard Ruiz in Gilroy in den Tagen nach den Schüssen auf dem Knoblauchfestival ausgemacht. «Was sich in Gilroy geändert hat, ist unser Fokus», sagt der 42-Jährige. «Niemand zeigt in der Öffentlichkeit Zeichen von Besorgnis oder Angst. Wir fühlen uns ermutigt. Wir wollen mehr rausgehen.»



In Pittsburgh, wo ein Schütze vergangenen Herbst in einer Synagoge elf Menschen tötete, hat genau diese Haltung dafür gesorgt, dass das Gemeinschaftsleben lebendig blieb. Es gibt kaum sichtbare Veränderungen, abgesehen von den «Stärker als Hass»-Schildern in manchen Geschäften. Sie ermuntern zu zwei Dingen: einer Rückkehr zum Alltagsleben und dem Versprechen, niemals zu vergessen.

Wachsamkeit wie in Israel und Afghanistan?

In Dayton beschreibt die 23-jährige Nikita Papillon den Schauplatz der Bluttat, die sich am Samstagabend auf der anderen Strassenseite abspielte, als die Art von Ort, «wo du nicht Angst haben musst, dass jemand die Örtlichkeit zusammenschiesst». Aber gibt es «diese Art von Ort» überhaupt noch? Und falls nicht, welche Auswirkungen hat das auf das Leben in den USA? Andernorts auf der Welt mussten und müssen Menschen ihren Alltag mit erhöhter Wachsamkeit neu austarieren. In Grossbritannien etwa, wo die Irisch-Republikanische Armee von den 1970er bis in die 1990er Jahre Anschläge verübte, oder in Afghanistan und im Irak, wo Anschläge in den vergangenen zwei Jahrzehnten zur Normalität wurden.

Oder in Israel während des zweiten Palästinenseraufstands, als Extremisten Anschläge auf Cafés, Einkaufszentren und Busse verübten. Zwischen 2000 und 2005 mieden viele israelische Juden öffentliche Busse und Menschenansammlungen. Andere kämpften darum, ihr Alltagsleben beizubehalten. Letztlich hätten es die Israelis aber nicht zugelassen, dass ihr Leben von diesen Ängsten diktiert wurde, sagt Avraham Sela, Professor für internationale Beziehungen an der Hebräischen Universität in Jerusalem.

20. Jahrestag des Massakers an der Columbine High

An diesem Punkt sind die USA noch nicht angelangt. Aber die Gespräche – Sollen wir gehen? Sollen wir die Kinder mitnehmen? Was ist das für ein Geräusch? – zeigen, dass die Gesellschaft beginnt, die Vorgänge in ihrer Mitte zu verarbeiten.



In diesem Jahr jährte sich das Massaker an der Columbine High School bei Denver zum 20. Mal. Damals erschossen zwei Schüler zwölf Schulkameraden und einen Lehrer. Sam Haviland, die 1999 die unterste Klasse besuchte, kennt andere Überlebende, die an öffentlichen Orten Angst haben oder sie meiden. Sie selbst wählte nach Jahren posttraumatischen Stresses einen anderen Weg. «Ich beschloss, dass ich nicht in Angst leben will und dass ich es nicht kontrollieren kann», sagt Haviland. «Deshalb habe ich mich mit der Tatsache abgefunden, dass ich in der Öffentlichkeit vielleicht nicht sicher bin.» Die Zahl ähnlicher Überfälle seither habe sie darin bestärkt, «dass ich vielleicht sogar noch einen weiteren Schusswaffenangriff überleben würde».

In einem Einkaufszentrum in Virginia Beach ist ein Paar unterschiedlicher Ansicht darüber, wie es mit den veränderten Gegebenheiten umgeht. «Wenn es passiert, passiert es», sagt der 27-jährige Maschinenführer Jerry Overstreet, der beim US-Militär in Afghanistan diente. Die 25-jährige Jasmine Luckey ist dagegen «super wachsam». Wenn sie auf grössere Veranstaltungen gehe, wisse sie immer, wo die Ausgänge sind, und gehe oft vorzeitig. «Es macht mich einfach nervös, und ich will nicht nervös sein», sagt die Sozialarbeiterin. «Ich will Kinder an einem Ort grossziehen können, wo sie ungehindert ein Stück von meiner Seite weichen können und ich nicht Angst haben muss, dass auf sie geschossen werden könnte.»

Bilder des Tages
Zurück zur Startseite