Öffnung belastet Risikogruppen «Für uns wird die Pandemie nun gefährlicher als je zuvor»

Von Andreas Fischer

17.2.2022

Warum muss ich im öV Maske tragen, in den Läden aber nicht?

Warum muss ich im öV Maske tragen, in den Läden aber nicht?

Am Donnerstag fallen die meisten Corona-Massnahmen. blue Redaktor Alex Rudolf beantwortet die wichtigsten Fragen.

16.02.2022

Fast keine Corona-Massnahmen mehr: Für viele Risikopersonen, zu denen auch Stefan Büsser gehört, wird das Leben schwieriger. Persönlich ist «Büssi» optimistisch, hat aber Verständnis für die Ängste von Betroffenen.

Von Andreas Fischer

17.2.2022

Transparenz-Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 4. Februar publiziert. Heute erscheint er in aktualisierter Form ein zweites Mal.

Die Schweiz macht sich locker: Der Bundesrat hat gestern Mittwoch fast alle Corona-Massnahmen aufgehoben. Die Maskenpflicht in Läden, Restaurants und am Arbeitsplatz ist Geschichte. Beizen, Veranstaltungen und Kultureinrichtungen sind wieder ohne Covid-Zertifikat zugänglich.

Die meisten Menschen freuen sich, dass es kaum noch Einschränkungen gibt. Für Personen, deren Immunsystem aufgrund von Erkrankungen geschwächt ist, bedeutet das Ende der Corona-Massnahmen aber auch ein erhöhtes Risiko.



Auch Stefan «Büssi» Büsser, der bei blue den Fussball-Podcast «Ehrenrunde» mitmoderiert, gehört wegen einer Lungenkrankheit zur Corona-Risikogruppe. Trotzdem sagt der Comedian: «Ich sehe mich mit Impfschutz nicht mehr als Risikoperson. Dank der Impfung kann ich mich komplett frei bewegen.»

Büsser freut sich auf «ein grosses Stück Normalität». Er kann «aber auch verstehen, dass es für andere Risikopatienten jetzt eine schwierige Situation ist».

Viele vulnerable Personen fühlen sich in der Tat alleingelassen und nicht gehört. So wie Annina Büchi. Die Ärztin leidet an Morbus Crohn, einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung, und ist damit eine besonders gefährdete Person (BGP) nach Definition des Bundesamtes für Gesundheit (BAG).

Die einen auf der Zielgeraden, die anderen abgehängt

Bei Büchi lösen die Lockerungen keine Euphorie aus, erklärt sie blue News: Auf Dinge, die sie eigentlich gern tun würde, etwa im Restaurant essen gehen, verzichtet sie wegen der hohen Infektionszahlen und nicht wegen der Massnahmen. «Die Massnahmen schränken mich aktuell gar nicht ein.»

Was nun die Lockerungen für sie bedeuten? «Im ÖV, in Lebensmittelläden, bei der Arbeit – überall wird es mehr hochansteckende Leute haben, da die Kontaktquarantäne aufgehoben wurde. Je höher aber die Viruslast in der Luft, desto höher ist auch das Risiko, sich anzustecken.»

Die Rückkehr zur Normalität sei kein Sprint, sondern ein Marathon, hat Gesundheitsminister Alain Berset zu Beginn der Pandemie gesagt. «Wenn man sich diesen Marathon vorstellt und wir uns jetzt tatsächlich auf der Zielgeraden befänden, dann laufen die Gesunden locker an der Spitze, währen die BGP ganz weit abgehängt sind», sagt Eveline Siegenthaler. Die 53-Jährige engagiert sich in der IG Risikogruppe ehrenamtlich für die Interessen von Risikopatientinnen und Risikopatienten.

«Ich müsste mich praktisch selbst wegsperren»

Siegenthaler leidet an angeborenen Herzfehlern und Funktionsstörungen von Organen, sie gehört selbst zu den besonders gefährdeten Personen und weiss: «Die Normalität kommt für BGP einfach später. Wir werden später die Masken abnehmen können. Wir werden uns später sicher fühlen. Deshalb sind wir auf das Verständnis der Bevölkerung angewiesen.»



Das aber fehle momentan, beobachtet Siegenthaler: «Man hört oft: Ihr müsst euch einfach an die Empfehlungen des BAG halten. Also: Hände waschen, Hygienemaske aufsetzen, impfen – und alles ist gut.» Das möge für einige Personen der Risikogruppen stimmen, aber eben nicht für alle. «Die Ratschläge, die betroffene Personen vom Hausarzt bekommen, sind immer individuell, einfach weil Risikopersonen unterschiedliche Krankheitsgeschichten haben.»

Das BAG antwortet auf Nachfrage, inwiefern bei den aktuellen und ab Mitte Februar geplanten Lockerungen die Bedürfnisse von Risikopersonen berücksichtigt wurden: «Die Auswirkungen der Massnahmen zur Pandemiebekämpfung auf besonders gefährdete Personen fliesst immer in die Entscheidung ein.» Zu ihrem Schutz gälten im Moment «die bekannten Massnahmen», die auf der Website zu finden sind. «Neue Empfehlungen werden gegenwärtig erarbeitet und zeitnah zu sich ändernden Massnahmen veröffentlicht.»

Es gibt nicht den einen Risikopatienten, sagt Eveline Siegenthaler. «In meinem privaten Umfeld gibt es jemanden, der 70 Jahre alt ist und Prostatakrebs hat, der unter Kontrolle ist. Er gehört zur Risikogruppe, genau wie ich. Wegen meiner Krankheitsgeschichte ist bei mir das Risiko, an einer Corona-Infektion zu sterben, allerdings 30-mal höher als bei ihm. Mein Bekannter kann viele Dinge tun; mir sagt mein Hausarzt hingegen, ich müsse mich praktisch wegsperren.» Dieses Wegsperren sei die Realität für mehrere Tausend besonders gefährdete Personen in der Schweiz.

Mit der Grippe ist es einfacher

«Als chronisch erkrankte Person weiss ich die Gesundheit sehr zu schätzen», erklärt Annina Büchi. «Ich weiss, was Fatigue heisst – wenn der Weg vom WC zum Bett schon eine halbe Weltreise ist. Ich möchte schlicht keine zusätzlichen vermeidbaren Gesundheitsprobleme bekommen, dadurch, dass ich mich mit dem Coronavirus anstecke: Ich habe bereits genug zu tragen, und eine zusätzliche Einschränkung der Lebensqualität wäre wirklich schwierig.»

Schon vor der Corona-Pandemie habe Annina Büchi Maske getragen bei der Arbeit und im öV, «einfach weil es sehr unangenehm ist, quasi ein halbes Jahr lang dauernd erkältet zu sein». Covid-19 sei wesentlich gefährlicher und wesentlich ansteckender als die Influenza, sagt die Ärztin. «Es ist eine Krankheit, die für Immunsupprimierte ein deutlich höheres Sterberisiko mit sich bringt. Ausserdem wissen wir noch nicht, was es für Langzeitfolgen gibt – schon gar nicht bei mehrfacher Ansteckung.»

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Trägst du weiterhin eine Schutzmaske?

Auch Siegenthaler betont, dass die Corona-Pandemie zum Beispiel mit den jährlichen Grippewellen nicht vergleichbar ist: «Bei der Grippe ist es ja so: Man hat die Leute gemieden, die Symptome hatten. Das war ganz einfach. Wenn ich jetzt aber zu Freunden essen gehe, könnten sie hochgradig ansteckend sein, obwohl sie keine Symptome haben. Das ist der grosse Unterschied.»

Trotz angeborener Immunschwäche habe sie vor der Pandemie ein normales Leben gehabt: «Auf ein paar wenige Sachen musste ich achten: gut Hände waschen, gewisse Sachen nicht essen. Aber ich konnte ins Theater gehen, ins Kino, ins Restaurant.» Seit zwei Jahren aber «ist die Realität für BGP, das sind in der Schweiz mehrere Tausend Personen, Selbstisolation. De-facto müssen wir uns selber freiwillig wegsperren».

Soziale Kontakte bleiben bei null

Mit den Lockerungen kommen für vulnerable Personen, für immunsupprimierte Menschen, für Diabetiker neue Einschränkungen, sagt Eveline Siegenthaler. «Für uns wird die Pandemie nun eine ganze Weile noch gefährlicher, gefährlicher als sie es je war. Viele BGP sind zum Beispiel auf den öV angewiesen, wenn sie zum Arzt müssen oder zu einer Therapie. Das gilt insbesondere auch für von Armut betroffene Menschen, die sich kein eigenes Auto leisten können.»



Auch Annina Büchi kommt um den öV nicht herum: «Ich werde weiterhin FFP2-Masken tragen und meine Kontakte so weit wie möglich auf null zurückfahren: kein Fitnessstudio, obwohl das gesundheitlich für mich wichtig wäre, keine Restaurantbesuche, keine kulturellen Aktivitäten. Solange bis die Zahlen wieder in einem vernünftigen Rahmen liegen.» Ausser zur Arbeit und zum Einkaufen wird sie ihre Wohnung wohl nicht verlassen, bedauert die Ärztin. Kommt hinzu, dass auch auf ihrer Arbeit immer ein gewisses Ansteckungsrisiko besteht: «Das wird auch wieder heissen: allein Mittagessen.»

Gerade das Gesundheitswesen sei in der Pandemie bisher extrem belastet gewesen, berichtet Büchi aus eigener Erfahrung. «Wir haben über Monate deutlich über der Grenze gearbeitet. Dass man nun wieder lockert, und das Gesundheitswesen noch mehr auslasten will, ist eine Katastrophe», macht die Medizinerin ihrer Enttäuschung Luft. Noch immer seien 20 Prozent der Patienten auf Intensivstationen Covid-Patienten, noch immer könnten verschobene Operationen nicht nachgeholt werden, noch immer «kann das Gesundheitspersonal nicht einmal durchatmen».

In einem Zürcher Detailhändler sind die Masken gefallen: Für gesunde Menschen sieht das Leben aus wie vor der Pandemie. Für Risikogruppen sind die Öffnungen nicht ungefährlich.
In einem Zürcher Detailhändler sind die Masken gefallen: Für gesunde Menschen sieht das Leben aus wie vor der Pandemie. Für Risikogruppen sind die Öffnungen nicht ungefährlich.
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Lockerungen zu welchem Preis?

Gewisse Massnahmen seien nötig, wenn man die Gesundheit der Bevölkerung und damit auch der Risikopersonen schützen muss, sagt Annina Büchi und betont: «Es geht immer ums Abwägen: Welche Massnahmen bringen wie viel, und was wird dafür von den Menschen verlangt?» Sie fragt sich aber auch: «Zu welchem Preis kann man die Massnahmen eigentlich abschaffen?»

Für Büchi ist klar: Fallen alle Massnahmen inklusive der Maskenpflicht weg, nimmt man in Kauf, mehr Menschen zu gefährden. «Davon werden viele erkranken, viele langfristig geschädigt sein und auch viele sterben.» Als Gegenleistung könne man Dinge ohne Masken und Zertifikat tun: «Ist die Einschränkung durch die Maskenpflicht schlimmer, als das Inkaufnehmen der Erkrankung und des Todes von anderen Menschen? Ich finde: nein.»

Wenn die Bevölkerung verlange, sie möchte ungeimpft, ohne Zertifikat und ohne Maske zum Coiffeur oder ins Kino, «dann ist ihnen das wichtiger, als das Überleben und die Gesundheit ihrer Mitmenschen. Und das finde ich eine Katastrophe. Da müsste sich die Gesellschaft, da müssten sich Politik und Staat entschieden dagegenstellen».

Die Einschränkungen bleiben

Dabei haben die besonders gefährdeten Personen «grösstes Verständnis für die Freude über die Lockerungen. Für viele gesunde Menschen ist die Pandemie praktisch vorbei», sagt Eveline Siegenthaler. Es sollte allerdings nicht vergessen gehen, dass viele Risikopersonen weiterhin von der Pandemie beeinträchtigt werden.

Brauchst du Hilfe?

Wenn die Verzweiflung zu gross wird, ist professionelle Hilfe angezeigt. Unterstützung bieten unter anderem die Dargebotene Hand www.143.ch, die IG Risikogruppe ig-risikogruppe.ch, die Plattform Dureschnuffe dureschnufe.ch und  Inclousiv inclousiv.ch .

Zahlreiche Betroffene seien verzweifelt und hätten gerade das Gefühl, dass nie mehr eine Normalität für sie eintreten werde. In Selbsthilfegruppen erlebt Siegenthaler immer wieder, dass Menschen nur noch zwei Möglichkeiten bleiben, um Freundschaften nicht zu verlieren: Sie lügen entweder, wenn sie soziale Kontakte meiden wollen, oder sie setzen sich grossen Risiken aus. «Aber sie müssen sich ja weiterhin schützen», sagt Siegenthaler und hofft auf Verständnis, wenn besonders gefährdete Personen trotz oder gerade wegen der Lockerungen vorsichtig bleiben.

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