Sans-Papiers in der Schweiz «Das Risiko der Ausbeutung steigt»

Von Maximilian Haase

1.3.2021

Unter der Corona-Krise leiden Sans-Papiers besonders. Viele sind auf Lebensmittel-Ausgaben angewiesen. (Archivbild)
Unter der Corona-Krise leiden Sans-Papiers besonders. Viele sind auf Lebensmittel-Ausgaben angewiesen. (Archivbild)
KEYSTONE/Martial Trezzini

Mangelnde Gesundheitsversorgung, prekäres Leben, Angst vor Ausschaffung: Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus und Krankenversicherung trifft die Pandemie am härtesten. Auch ein Jahr nach Beginn der Krise hat sich für Sans-Papiers in der Schweiz wenig verbessert.

Ein Jahr Corona-Pandemie – ein Jahr Existenzangst: Für viele Menschen in der Schweiz ist das Realität. Am meisten getroffen hat die Krise dabei jene, die laut Gesetz nicht einmal hier sein dürften. Laut Schätzungen leben hierzulande zwischen 58'000 und 105'000 Sans-Papiers, oft arbeiten sie in Privathaushalten, in der Gastronomie, in der Landwirtschaft und auf dem Bau. In der Corona-Krise hat sich die ohnehin prekäre Gesundheitsversorgung und Einkommenssituation der meisten noch einmal verschlechtert.

Die Pandemie trifft Menschen ohne Papiere und Krankenversicherung besonders, «weil diese während einer solchen Krise auf keine direkte Hilfe zurückgreifen können», hiess es bereits im vergangenen August in einer Mitteilung der Plattform für Sans-Papiers in der Schweiz. Schliesslich drohen im Kontakt mit Behörden Konsequenzen bis hin zur Ausschaffung.

Weil sie sonst entdeckt würden, seien Menschen ohne gültige Papiere «darauf angewiesen, im Versteckten zu leben, nicht aufzufallen», sagt Lelia Hunziker, Geschäftsführerin der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) zu «blue News». Das mache sie «besonders vulnerabel und prekarisiert». Neben der Angst vor Kontrollen prägt in der Pandemie oft pure Existenznot die Leben der Papierlosen. Krankenversichert sind nur wenige, Anspruch auf Sozial- und Arbeitslosenhilfe gibt es nicht, geschweige denn Unterstützung für Kurzarbeit.

«Der Wegfall der Jobs ist fatal»

Gerade im ersten Lockdown hätten viele Betroffene ihre Stellen verloren, berichtet Bea Schwager, Leiterin der Sans-Papiers-Anlaufstelle in Zürich (SPAZ), im Gespräch mit «blue News». Weil die meisten ohne Vertrag, auf Stundenlohnbasis und für geringe Einkommen arbeiteten, «waren viele Sans-Papiers sofort mittellos». Laut Schwager, die auch das viel diskutierte Projekt Züri City Card ins Leben gerufen hat, «eine absolut katastrophale Situation». In Grossstädten wie Genf und Zürich waren auf dem Höhepunkt der Krise viele Sans-Papiers sogar auf die Ausgabe von Lebensmittel-Paketen angewiesen.

«Der Wegfall der Jobs ist fatal», weiss auch Lelia Hunziker: «Der Lohn entfällt, Familien in den Herkunftsländern können nicht mehr unterstützt werden, oft entfällt auch Kost und Logis.» In letzter Konsequenz: «Die Menschen werden obdachlos.»



Neben der ökonomischen Lage bereitet vor allem die medizinische Versorgung Probleme: Aus Angst vor den möglichen Folgen einer Registrierung und aufgrund der fehlenden Krankenversicherung gehen viele Sans-Papiers bei Corona-Symptomen nicht zum Arzt oder ins Spital. Ähnlich verhalte es sich mit Tests, wie Schwager aus Erfahrung berichtet: Dass bei den Zentren ein Ausweis verlangt werde, habe viele «sehr abgeschreckt, einen Test zu machen». Das könne auch bei der Impfung zum Problem werden, die wohl ebenfalls eine Anmeldung verlangt – «davor scheuen Sans-Papiers natürlich sehr zurück». Offizielle Statistiken über die Zahl der Corona-Fälle unter Sans-Papiers gibt es nicht.

Enorm schwierig sei in Zeiten der Pandemie laut Bea Schwager auch, «dass Sans-Papiers meist in sehr engen Verhältnissen leben». Oft wohnten mehrere Menschen in einem Zimmer: «Wenn sie dann in Quarantäne müssen, haben sie keine räumliche Möglichkeit, sich zu isolieren.» Betroffen sind davon laut der schweizweiten Plattform in der Pandemie sowohl Sans-Papiers als auch abgewiesene Asylsuchende, die in Notunterkünften die vom BAG vorgeschriebenen Regeln nicht einhalten können und daher besonders gefährdet seien.

Fortschritte in den Städten

Immerhin: In manchen Punkten scheint sich die Lage verbessert zu haben – jedenfalls in Städten wie Zürich. Dort werden Sans-Papiers nun in Notfällen etwa auch ohne Papiere im Spital aufgenommen. Zuvor war vor einer Behandlung die Krankenkassen-Anmeldung noch Pflicht, eine für die meisten Sans-Papiers zu kostspielige Angelegenheit. Gesundheitskosten, die durch die Pandemie entstehen, werden nun von der Stadt Zürich übernommen. Zudem habe die Stadt Schwager zufolge angeboten, Räume bereitzustellen, in denen sich Sans-Papiers in Quarantäne begeben können.

Als essenziell in der Corona-Krise erwiesen sich auch Angebote wie die Meditrina, eine Anlaufstelle des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) in Zürich, bei der sich Sans-Papiers vertraulich medizinisch behandeln und auch auf das Coronavirus testen lassen können. Da sich die Testkriterien «mit den entsprechenden Symptomen mit zunehmendem Wissen mehrfach verändert haben», lasse sich nicht genau beziffern, wie viele Menschen man mit möglichen Corona-Symptomen behandelt habe, sagt Meditrina-Leiterin Linda Stoll im Gespräch mit «blue News».

Auf das kostenlose Angebot setzt man in der grössten Schweizer Stadt auch in Sachen Impfung der Sans-Papiers. Eine Planung der Impfungen sei laut Linda Stoll aber «zurzeit für alle Arztpraxen schwierig, da der Zeitpunkt der Verfügbarkeit des Impfstoffes ungewiss ist». Die Zuteilung der Impfstoffe an Arztpraxen werde durch den Kanton festgelegt und «zu gegebener Zeit die Planung möglicher Impfungen bestimmt». In einem Mediencommuniqué des SRK heisst es, man wolle sich weiter für Lösungen einsetzen, damit «auch Sans-Papiers ohne Krankenversicherung einen gleichberechtigten Zugang zur Impfung haben».

Der Bund weitete Anfang Februar die Übernahme der Impfkosten auf in der Schweiz lebende Personen aus, die nicht obligatorisch krankenversichert sind. «Wie sich die Umsetzung in der Praxis für Sans-Papiers gestalten wird, ist abzuwarten», sagt Meditrina-Leiterin Stoll.

Jobsituation bleibt prekär

Fortschritte sieht SPAZ-Leiterin Bea Schwager bei der Existenzsicherung: Viele Kantone bewilligten in der Corona-Krise Nothilfe für Sans-Papiers, in Städten wie Basel, Genf, Zürich und Bern gab es Gelder aus eigens eingerichteten Hilfsfonds, die meist über die städtischen Anlaufstellen zu den Sans-Papiers gelangen. So hätten sich die Städte Zürich und Uster bereit erklärt, die Mieten für Sans-Papiers zu übernehmen. Neben der staatlichen Hilfe konnten Mittel auch aus eigenen Aufrufen der NGOs und aus Spenden generiert werden. Vor allem Gelder der Glückskette konnten laut Schwager Nahrungsmittel und weitere Mieten finanzieren, zudem seien Krankenkassen-Jahresprämien durch Einzelspender übernommen worden.

Ähnliche Angebote für Sans-Papiers existieren in vielen weiteren Kantonen, die Trägerschaften variieren. Ein schweizweiter Zusammenschluss, der Menschen ohne Papiere bei medizinischen Fragen und Problemen hilft, ist die «Nationale Plattform Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers». 2006 vom BAG gegründet, vereinigen sich in ihr private und öffentliche Institutionen.



Die Jobsituation hat sich nach dem Schock des ersten Lockdowns indes nur teilweise verbessert. Zwar hätten viele Sans-Papiers inzwischen wieder zu ihrer alten Stelle zurückkehren oder eine neue finden können, berichtet Schwager. Doch neben jenen, die sich stabilisieren konnten, befänden sich viele noch in einer schwierigen Situation. Gerade für Menschen, die zuvor in der Gastronomie gearbeitet haben, sehe es «düster» aus. Es sei unklar, ob diese Sans-Papiers jemals wieder einen Job fänden. Auch für die in Privathaushalten Beschäftigten gebe es noch immer ungenügend Jobs mit existenzsichernden Einkommen. Dieser Gruppe werde noch Nothilfe ausgezahlt.

Dass sich die Arbeitssituation der Sans-Papiers in nächster Zeit verbessern wird, glaubt Lelia Hunziker nicht: «Wir gehen davon aus, dass es viel Mobilität geben wird, dass Menschen Arbeit für Lebensunterhalt suchen.» Es werde ein «Überangebot an Arbeitskräften im Niedriglohn-Bereich» geben, die Arbeitsbedingungen würden schlechter. Für Sans-Papiers heisse das: «Das Risiko der Ausbeutung steigt.»

Bund lehnt Regularisierung ab

Schweizweite Hilfe für Sans-Papiers in der Pandemie lehnte der Nationalrat schon vergangenen Sommer mit Verweis auf die Zuständigkeit der Kantone ab: Man sehe «keinen Bedarf zur Äufnung eines Fonds», hiess es in einer Stellungnahme zu einer Interpellation der Nationalrätin Ada Marra zur Frage «Welche Hilfe erhalten Sans-Papiers während der Covid-19-Krise?» In Genf steht ein Gesetz zur Öffnung der Corona-Hilfen derweil am 7. März zur Abstimmung. Die SVP hatte dagegen das Referendum ergriffen.

«Unsere Wirtschaft funktioniert mit dieser Kategorie von Arbeitnehmern, aber wir wollen ihnen keine Rechte geben», kritisiert die SP-Politikerin Marra im Gespräch mit «blue News». Darin, dass Sans-Papiers in der Corona-Krise daher nur eingeschränkt Zugang zu medizinischer Versorgung haben, sieht sie «ein öffentliches Gesundheitsproblem für die gesamte Gesellschaft».

Politisch sorgt die Situation der Papierlosen ohnehin seit Jahren für Streit. Während die Bürgerlichen auf Abschreckung setzen und die SVP-Fraktion im Nationalrat in einer Motion im vergangenen Dezember etwa den Ausschluss der Sans-Papiers von allen Sozialversicherungen forderte, drängen Linke und Grüne auf eine Legalisierung. Auch die schweizweite Sans-Papiers-Plattform betrachtete in einem Forderungskatalog die Regularisierung als «einzige umfassende und nachhaltige Lösung, um diese prekäre Situation zu beenden». So sieht es auch Lelia Hunziker: Die Schweiz brauche eine kollektive Regularisierung, «sodass Arbeiterinnen und Arbeiter zu ihren Rechten kommen – gerade während Corona».



Der Bundesrat teilte Ende Dezember 2020 mit, dass er eine kollektive oder Teil-Regularisierung ebenso ablehne wie einen allgemeinen Ausschluss der Sans-Papiers von den Sozialversicherungen. Man erachte den geltenden Rechtsrahmen als angemessen, «auch wenn ein Konflikt besteht zwischen dem öffentlichen Interesse an einer Sozialversicherungspflicht von Sans-Papiers einerseits und der Bekämpfung der Schwarzarbeit und des illegalen Aufenthalts andererseits», hiess es in einer Medienmitteilung. Zudem verwies der Bundesrat auf die Möglichkeit der Einzelfallprüfung: Die geltende Gesetzgebung habe sich «bewährt» und liesse «Bund und Kantonen ausreichend Spielraum, um Härtefällen Rechnung zu tragen».

Schweizweit keine Mehrheiten

In diesem Rahmen sei laut Bund schliesslich auch die Operation Papyrus in Genf möglich gewesen, ein Pilotprojekt, das trotz einiger Hürden bis heute den Aufenthalt von 2400 Sans-Papiers legalisierte, die schon lange in der Schweiz leben. Man sehe allerdings, so SP-Frau Marra im Gespräch mit «blue News», «dass auf Bundesebene keine Bereitschaft besteht, diese Lösung auf alle Kantone auszuweiten. Es gibt keinen politischen Willen». Dies sei «bedauerlich, weil die Heuchelei weitergeht». Dass auch Projekte wie die Züri City Card in den eher rot-grün wählenden Städten entstehen, liegt an den fehlenden schweizweiten Mehrheiten.

Laut Bea Schwager sei die City Card ins Leben gerufen worden, «weil wir mit den Forderungen nach einer kollektiven Regularisierung schweizweit und im Kanton nicht weiterkamen». Der Stadtausweis solle – ungeachtet von Herkunft und Status – «diskriminierungsfreien Zugang zu städtischen Einrichtungen» bieten und von der Polizei anerkannt sein. Schwager zufolge böte dies gerade in der Corona-Krise, etwa bei städtischen Testzentren, grosse Vorteile. Als Präsidentin des Vereins Züri City Card macht sie sich trotz Gegenwehr von SVP und FDP «nicht allzu viele Sorgen» um die Verwirklichung ihrer Idee ­– selbst wenn ein Referendum komme.



Die Kritik, dass derlei Projekte nur mehr Anreize böten, ohne Papiere in der Schweiz zu leben, weist Schwager zurück: «Sans-Papiers sind da, wo sie Arbeitsstellen finden. Deren Zahl ist begrenzt», erklärt sie. «Finden sie keine Arbeit, dann ziehen die Sans-Papiers weiter, weil sie darauf angewiesen sind.» 

Dass es sich um ein internationales Problem handelt, zeigt auch ein Blick auf andere Länder. Einige davon hätten während der Corona-Krise Schritte in Richtung kollektive Regularisierung genommen, verweist Lelia Hunziker etwa auf Italien. Dort einigte man sich immerhin auf die befristete Legalisierung von Arbeitern, neben Erntehelfern änderten so vor allem Haushaltsarbeiterinnen ihren Status. Portugal legalisierte bereits im vergangenen Frühjahr alle Menschen, die vor Beginn des Ausnahmezustands einen Antrag auf Asyl oder Aufenthaltsbewilligung gestellt hatten. In den Schweizer Nachbarländern Frankreich und Deutschland ist es bis dahin indes noch ein weiter Weg – doch auch hier organisieren sich Sans-Papiers in Initiativen und demonstrieren für ihre Legalisierung.

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