Kommentar Die Schweiz reist zur WM – und jetzt kommt mal wieder runter

Von Tobias Benz

17.11.2021

Murat Yakin weiss, dass die Schweiz gegen Italien auch viel Glück beanspruchte.
Murat Yakin weiss, dass die Schweiz gegen Italien auch viel Glück beanspruchte.
Bild: KEYSTONE

Können wir uns wieder etwas beruhigen? Der furiose Auftritt der Schweizer Nati am Montagabend in Luzern zieht seine nicht endende mediale Schleimspur weit bis in den Dienstag und Mittwoch hinein. Zeit für eine Prise Schweizer Gelassenheit.

Von Tobias Benz

Die «beste Nati», der «beste Nationalcoach», die «beste WM-Quali» – fast kein Superlativ liess die Schweizer Presse am Tag nach der gelungenen WM-Qualifikation ungenutzt. Rosig duftende Liebesbriefe, so weit das Auge reicht. Und ja, die Schweiz hat einen super Job gemacht. Und ja, Murat Yakin hat den besten Punkteschnitt «aller Zeiten». Und ja, ich freue mich auch tierisch darüber, aber können wir jetzt alle wieder auf den Boden zurückkommen? Vielen Dank.

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Wir fahren nach Katar! Und du so?

Wie oft wurde bereits bemängelt, dass ein neuer Trainer schon nach viel zu kurzer Zeit in Kritik geriet? Oder dass die Medien eine Mannschaft nach einer entscheidenden Niederlage zu dramatisch in Einzelteile zerlegten? Der Fussball sei viel zu schnelllebig geworden, heisst es oft – ein gutes Gefüge brauche seine Zeit. Dieser Gedanke ist schön und recht, scheint aber in erfolgreichen Zeiten gleichermassen schnell vergessen zu gehen.

Ja, wir haben die Quali-Gruppe vor den Italienern auf dem ersten Platz abgeschlossen. Aber auch «mit viel Glück», wie Murat Yakin nach dem Sieg über Bulgarien selbst sagt. Zweimal standen lediglich elf Meter zwischen der Schweiz und den WM-Playoffs. Bei einigen der Glanzparaden von Yann Sommer sogar noch deutlich weniger. Und auch das Spiel gegen die Bulgaren roch 45 Minuten lang nicht nach winterlicher Wüstenluft. Ganz zu schweigen von den tapferen Nordiren, die uns in Belfast entscheidende Schützenhilfe leisteten.

Cooler und sicherer Rückhalt, der aber zu oft gebraucht wird: Yann Sommer.
Cooler und sicherer Rückhalt, der aber zu oft gebraucht wird: Yann Sommer.
Bild: Getty Images

Wer schnell urteilt, muss schnell vergessen können

Das war eine hervorragende Qualifikation der Nati und nach einem solchen Triumph darf und soll Lob verteilt werden. Es war aber auch viel Glück dabei. Und: Auch Erfolg muss kritisch hinterfragt werden, wenn er bestehen bleiben soll. Weshalb nimmt Yakin nach 68 Minuten mit Okafor den bis dahin besten Schweizer Offensivakteur vom Platz? Ein Geniestreich oder eine hochriskanter taktischer Schachzug? Rechtfertigen muss sich der 47-Jährige nach dem 4:0 nicht. Zumal Steffens Assist auf Itten nur Minuten später jeden Kritiker im Regen stehen lässt.

Aber was, wenn die Joker in der Gruppenphase in Katar gegen Panama nicht stechen und die Schweiz 0:1 verliert? Oder Sommer im Achtelfinale gegen Italien für einmal den Elfmeter nicht halten kann? Dann sind sie alle sofort wieder da. Dieselben, die der Nati in den letzten Tagen Honig um den Mund schmierten. Nur dieses Mal nicht mit Rosen und Liebesbriefen, sondern mit der vollen Breitseite. Die «peinliche Panama-Pleite», oder der «Sommer-Albtraum im Wüsten-Winter» lesen wir dann und vergessen, dass die Schweiz im Herbst zuvor die WM-Teilnahme mit einem wundervollen Exploit überhaupt erst möglich gemacht hatte.

Zeit für eine Prise Schweizer Gelassenheit. Das war ein toller Auftritt der Nati. Aber nicht der «beste aller Zeiten». Den muss sie sich ja schliesslich für das WM-Finale aufsparen.

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