Häusliche Gewalt IV Frauenhäuser: «Wir suchen nach Ferienwohnungen und Hotelzimmern»

Jennifer Furer

4.4.2020

«Zu Hause bleiben ist bei häuslicher Gewalt gefährlich und keine Option», sagt Marlies Haller, Geschäftsführerin Stiftung gegen Gewalt an Frauen. Frauenhäuser bauen derzeit ihre Kapazitäten aus.
«Zu Hause bleiben ist bei häuslicher Gewalt gefährlich und keine Option», sagt Marlies Haller, Geschäftsführerin Stiftung gegen Gewalt an Frauen. Frauenhäuser bauen derzeit ihre Kapazitäten aus.
Bild: Keystone

Schutz vor Gewalt: In Frauenhäusern finden Opfer häuslicher Gewalt jene Sicherheit, die sie zu Hause nicht haben. Mit der Corona-Krise werden die Plätze und das Personal knapp. Der Dachverband der Frauenhäuser fordert nun Hilfe.

19'500 Straftaten registrierte der Bund laut der schweizerischen Kriminalstatistik im Bereich häuslicher Gewalt letztes Jahr. 29 davon waren Tötungsdelikte. Die Zahl steigt von Jahr zu Jahr. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein.

Schutz vor häuslicher Gewalt finden Frauen und Kinder in Frauenhäusern. Insgesamt gibt es in der Schweiz 18 Schutzunterkünfte für Frauen. Ihnen stehen 134 Zimmer und 292 Betten zur Verfügung. Der Platz ist begrenzt. Im Jahr 2017 mussten rund 650 Frauen abgewiesen und weitervermittelt werden. Für die Frauen muss eine Alternativlösung gefunden werden.

Die Lage spitzt sich mit der Corona-Krise zu. Experten sind sich einig: Durch die derzeitige Krisensituation kommt es zu mehr häuslicher Gewalt. Die Frauenhäuser rüsten sich für einen Ansturm.

Marlies Haller, Geschäftsführerin Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern und Vorständin der Dachorganisationen der Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein, sagt im Interview, wie sich die Frauenhäuser jetzt vorbereiten.

In den meisten Fällen werden Frauen und Kinder Opfer von häuslicher Gewalt.
In den meisten Fällen werden Frauen und Kinder Opfer von häuslicher Gewalt.
Bild: Keystone

Frau Haller, wie sieht die Lage in den Frauenhäusern im Moment aus?

Noch bemerken wir keine grosse Zunahme. Aufgrund der zusätzlichen Stressfaktoren für Beziehungen und Familien ist diese aber zu erwarten. Ich befürchte, dass sich Frauen derzeit weniger Hilfe holen können, weil sie zu Hause isoliert sind und vom Täter kontrolliert werden. Bei Kindern fallen die Schule und Vereine als soziale Kontrollinstanz weg.

Was raten Sie Betroffenen?

Sich Hilfe holen oder sich helfen lassen. Zu Hause bleiben ist bei häuslicher Gewalt gefährlich und keine Option.

Frauenhäuser können in diesem Fall kontaktiert werden. Gibt es denn genug Platz?

Zur Person
Bild: zVg

Marlies Halle ist Geschäftsführerin der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern und Vorständin der Dachorganisationen der Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein.

Wir können im Moment weniger Plätze anbieten – wegen des Schutzes unserer Mitarbeiterinnen und Klientinnen mit Kindern und wegen der Einhaltung der durch den Bund vorgeschriebenen Distanz. Zudem müssen wir Isolationsräume für Frauen und Kinder schaffen, die in Quarantäne müssen. Um trotzdem auf den Ansturm vorbereitet zu sein, bauen wir präventiv Aussenplätze aus. Denn zunehmende Anfragen durch Frauen, die Schutz brauchen, zeichnen sich ab.

Wie sehen diese Aussenplätze konkret aus?

Wir suchen nach Ferienwohnungen, Hotelzimmern und Plätzen in anderen Institutionen, in denen die Frauen Schutz bekommen können. Wichtig ist mir, zu sagen: Wir weisen niemanden ab, sondern wir weisen immer weiter. Wenn eine Anfrage kommt, wird abgeklärt, ob es sich um häusliche Gewalt handelt und wie die Gefährdung ist.

Und dann?

Dann wird ein Platz gesucht – in einem anderen Frauenhaus oder, wenn alle voll sind, bei geringer Gefährdung auch mal im Hotel. Dies war schon immer so, da wir aber nun wegen der Corona-Krise weniger Platz und Personal haben und einen Anstieg erwarten, brauchen wir mehr solche externen Plätze.

Inwiefern bräuchten Sie Hilfe von den Kantonen und vom Bund?

Da wir durch die Distanz- und Hygieneregeln weniger Frauen und Kinder aufnehmen können und Mitarbeiterinnen und Klientinnen schützen wollen – gleichzeitig aber mit einer Zunahme der häuslichen Gewalt und einer Abnahme des Personals durch Krankheit rechnen müssen –, brauchen wir dringend schnelle und unbürokratische Hilfe in diversen Bereichen.

Diese wären?

Wir brauchen neue sichere externe Wohnmöglichkeiten für alle, die von häuslicher Gewalt bedroht sind und wegen einer möglichen oder tatsächlichen Ansteckung mit dem Coronavirus oder wegen Überbelegung nicht in ein Frauenhaus können. Auch die Personalressourcen für die Betreuung dieser Aussenplätze müssen finanziert werden.



Was benötigen Frauenhäuser noch?

Wir brauchen auch eine schnelle und unbürokratische Gesuchsbewilligung nach Opferhilfegesetz durch die Kantone. Einerseits für die Frauen, die ausserhalb des Frauenhauses platziert werden und andererseits für Verlängerungen des Aufenthaltes der Frauen im Frauenhaus, die wegen Corona nicht austreten können.

Wäre es nicht hilfreich, wenn in den Frauenhäusern selbst Coronavirus-Tests durchgeführt werden könnten?

Die Tests müssen nicht in den Frauenhäusern durchgeführt werden. Wir müssen wie Apotheken und Heime als systemrelevant eingestuft werden, damit wir zum Testen in den Testzentren zugelassen werden, damit unnötige Isolationen nicht zu Personalmangel führen.

Wie sieht die derzeitige Unterstützung aus?

Ich kann nur so viel sagen: Die Unterstützung der Kantone ist sehr verschieden.

Wie kann die Normalbürgerin oder der Normalbürger die Frauenhäuser jetzt unterstützen?

Am einfachsten mit Spenden. Eventuell aber auch, indem sie Wohnungen oder Zimmer zur Verfügung stellen. Oder, indem sie die kantonalen PolitikerInnen auffordern, beim Kanton Unterstützung für die Opferhilfe einzufordern.

Wie gehen Sie persönlich mit der jetzigen Situation um?

Ich bin seit Wochen mit dem Krisenmanagement sehr ausgelastet. Der normale Alltag mit all seinen Pendenzen bleibt liegen, und es wird von Tag zu Tag geschaut, was nun das Dringendste ist. Manchmal bin ich müde – aber auch immer wieder optimistisch und voller Energie, weil wir eine grosse Solidarität erfahren und auch intern sehr gut zusammenarbeiten.


Serie zum Thema Häusliche Gewalt

Häusliche Gewalt ist in der Schweiz weit verbreitet. 2018 wurden laut schweizerischer Kriminalstatistik rund 18'500 Straftaten gezählt. 2019 stieg die Zahl um acht Prozent auf 19'500 Straftaten. Die Dunkelziffer ist hoch. In Zeiten des Coronavirus verschärft sich das Problem, weil man sein Haus nicht mehr verlassen sollte, die Schulen und Kindergärten geschlossen sind sowie Homeoffice zu intensiverem Zusammenleben führt. «Bluewin» beleuchtet das Thema häusliche Gewalt diese Woche in einer Serie.


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