Häusliche Gewalt III Corona-Krise: Gewalt nimmt zu – unter dem Radar der Behörden

Von Jennifer Furer

1.4.2020

Von häuslicher Gewalt betroffen: Gewalttaten an Kindern kommen häufig in der Schule ans Licht. 
Von häuslicher Gewalt betroffen: Gewalttaten an Kindern kommen häufig in der Schule ans Licht. 
Keystone

Die Corona-Krise bietet Nährboden für Gewalt – meist an Frauen und Kindern. Experten vermuten, dass die Vorfälle zunehmen, aber weniger gemeldet werden. Wie die Behörden jetzt reagieren und wie jede und jeder Einzelne helfen kann.

Mit der Faust schlägt er zu. Sie liegt am Boden, kann sich nicht wehren. Der gemeinsame Sohn sieht seine Mutter weinen. Der Vater macht ihm Angst, doch er schweigt, geht in sein Zimmer. Die Mutter rappelt sich auf – wie immer, wenn ihr Mann seine Wut an ihr ausgelassen hat.

Szenen wie diese häufen sich. Die kürzlich veröffentlichte schweizerische Kriminalstatistik zeigt: Die Anzahl Straftaten im Bereich häuslicher Gewalt nimmt zu. Waren es 2018 rund 18'500, stieg die Zahl 2019 auf 19'500. Nicht nur im Jahresvergleich zeigt die Entwicklung nach oben.

Die Corona-Krise, da sind sich Experten einig, wird zu einer Zunahme an häuslicher Gewalt führen. Auch von «Bluewin» angefragte Schweizer Behörden, Beratungsstellen und Opferhilfen sind sich dieser Entwicklung bewusst.

«Extremsituation» für Familien

«In der aktuellen Situation können Verunsicherung und fehlende Ausweichmöglichkeiten in der eigenen Wohnung zu vermehrten Konflikten in Beziehungen und Familien führen und Gewalt auslösen», sagt Susanna Gadient, Leiterin des kantonalen Sozialamts Graubünden.

Patrick Fassbind, Präsident der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) des Kantons Basel-Stadt, glaubt ebenfalls, dass die fehlenden Sozialkontakte Familien und Paare vermehrt an ihre Grenzen bringen werden. Er spricht von einer «Extremsituation. Die Überforderung von Familien in diesem Ausnahmezustand wird zu Krisen führen», ist sich Fassbind sicher.

2019 wurden 29 Tötungsdelikte im Bereich häuslicher Gewalt registriert.
2019 wurden 29 Tötungsdelikte im Bereich häuslicher Gewalt registriert.
Bundesamt für Statistik

Überforderung, Frustration, Existenzängste, psychische Herausforderungen, eingeschränkte Bewegungsfreiheit und das Zusammenleben auf einem begrenzten Raum mit denselben Menschen über eine längere Zeit: Das alles seien Folgen, welche die Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus mit sich bringen könnten.

Margot Dörig, Präsidentin der Kesb Dübendorf, sieht den Umgang mit diesen Herausforderungen als Ursache für häusliche Gewalt. «Sind die Menschen unter hohem Druck, in grosser Unsicherheit und sind sie nicht in ausreichendem Masse in der Lage, mit den gewohnten – unter normalen Umständen bewährten – Strategien Abhilfe zu schaffen, ist eine Zunahme von problematischen Verhaltensweisen zu erwarten.»



Dabei könne es auch zu «Kurzschlussreaktionen» kommen. «Dies schliesst auch Gewalthandlungen an Kindern nicht aus», so Dörig.

Physische und psychische Gewalttaten an Kindern in der Corona-Krise zu erkennen, ist nicht einfach. «Es fehlt nun an sozialer Kontrolle durch aussenstehende Dritte, da die betroffenen Kinder nicht mehr zur Schule oder in den Kindergarten gehen und sich zumeist zu Hause aufhalten müssen», sagt Thomas Büchler, Präsident der Kesb Thun.

Gewalt an Kinder: Sozialkontrolle fehlt

Patrick Fassbind von der Kesb Basel-Stadt stellt fest, dass Meldungen im Bereich Kinderschutz wegen der fehlenden Sozialkontrolle zurückgehen. «Das haben wir in den ersten zwei Wochen der Corona-Krise bereits erlebt. Statt durchschnittlich rund 15 Gefährdungsmeldungen pro Woche haben wir in der ersten Woche nach dem Shutdown nur gerade eine und in der zweiten Woche zwei Meldungen erhalten.»

Dörig von der Kesb Dübendorf sagt, neben der fehlenden Sozialkontrolle in Schulen und Kindergärten komme hinzu, dass bestimmte Entlastungspersonen, die normalerweise Teil des Familiensystems sind, nicht oder nur begrenzt verfügbar seien – etwa die Grosseltern. «Von den Eltern wird also im Moment besonders viel erwartet, insbesondere auch organisatorisch, bei möglicherweise gleichzeitigem Vorhandensein von eigenen Sorgen und Ängsten.»

Häusliche Gewalt von Eltern ausgehend: Am häufigsten üben Männer im Alter zwischen 40 und 49 Jahren Gewalt gegen Kinder aus.
Häusliche Gewalt von Eltern ausgehend: Am häufigsten üben Männer im Alter zwischen 40 und 49 Jahren Gewalt gegen Kinder aus.
Bundesamt für Statistik

Kinder und Eltern könnten nicht als unabhängige Individuen angesehen werden, sondern beeinflussten sich gegenseitig. «Das eigene Schiff in diesen stürmischen Zeiten zuverlässig zu steuern und nicht kentern zu lassen, bedarf grosser Anstrengungen und Eigenverantwortung», sagt Dörig. Besonders herausfordernd sei dies für Familien mit beengten Wohnverhältnissen und allenfalls erkranktem Elternteil.

Die Sozialkontrolle fällt nicht nur bei Kindern weg. Stefan Armenti, Präsident der Kesb Solothurn, stellt auch bei Meldungen zu erwachsenen Personen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, keine Zunahme, ja sogar einen leichten Rückgang fest.

«Dies ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass der soziale Empfangsraum von vulnerablen erwachsenen Personen durch die Massnahmen des Bundes kleiner wurde, weshalb allfällige Bedürftigkeiten nach Unterstützung weniger wahrgenommen werden.»

Opfer von Täter überwacht

Patrick Fassbind von der Kesb Basel-Stadt sagt, dass bei ihnen im Erwachsenenschutz die Meldungen stabil bleiben würden, weil der Bundesrat in diesem Bereich im Gegensatz zu den im Kindesschutz zentralen Schulen alle sozialen Institutionen vom Shutdown ausgenommen hat.

«Er gewichtet die soziale Sicherheit und Ordnung höher als die Pandemiebekämpfung», sagt Fassbind. Mit Ausnahme der Präsenzschule würden im Kindes- und Erwachsenenschutz fast alle sozialen Angebote wie vorher funktionieren – wenn auch an die Lage angepasst.

Dass die Anzahl Meldungen über häusliche Gewalt aktuell stabil sei und noch keine Zunahme festzustellen sei, kann laut Sozialpädagogin Doris Binda von der Beratungsstelle Frauen-Nottelefon in Winterthur auch darauf zurückzuführen sein, dass es für Betroffene schwieriger ist, zu telefonieren, da der gewaltausübende Partner auch zu Hause ist.

Brigitte Gschwend Walthert von der Opferhilfe Bern sagt zudem: «Es kann sein, dass die Betroffenen die veränderte Situation zuerst beobachten wollen und vielleicht auch hoffen, dass sie selber eine Lösung finden.» Ausserdem wäre es auch vorstellbar, dass sich Opfer von häuslicher Gewalt nicht getrauen, wegen der Pandemie einen Polizeiposten aufzusuchen. «Der Anruf bei der 117 ist für viele ein grosser Schritt, zu dem sie sich meist nur in Ausnahmesituationen entscheiden.»



Dass sich die Situation in den kommenden Tagen und Wochen zuspitzen wird, ziehen alle von «Bluewin» angefragten Stellen in Betracht. «Wir rechnen damit, dass sich die Anzahl Meldungen erhöhen wird», sagt etwa Karin Fischer, Präsidentin der Kesb der Bezirke Winterthur und Andelfingen. Und auch Dörig von der Kesb Dübendorf sagt: «Je länger die Massnahmen dauern, umso mehr muss mit einem Anstieg häuslicher Gewalt gerechnet werden.»

Zentral ist es laut Dörig nun, dass die flankierenden Unterstützungsangebote und Beratungsleistungen weiterhin aufrechterhalten werden. Um auf einen möglichen krisenbedingten Ansturm vorbereitet zu sein, müsse auch genügend Personal vorhanden sein.

«Es ist demnach zu begrüssen, dass der Kanton die Organisationen im Bereich der Opferhilfe dazu aufgefordert hat, zusätzliches Personal einzustellen – etwa Studierende im Bereich der Sozialarbeit, Psychologie, Sozialpädagogik –, und neue Räume für die Unterbringung von Opfern bereitzustellen.»

Tätlichkeit ist die am häufigsten verübte Straftat im Bereich häuslicher Gewalt.
Tätlichkeit ist die am häufigsten verübte Straftat im Bereich häuslicher Gewalt.
Bundesamt für Statistik

Auch in anderen Städten und Kantonen gilt die Devise, bestehende Angebote sicherzustellen und auszubauen: Genügend Beratungs- und Betreuungsangebote, einen 24-Stunden-Pikettdienst für Notfälle, ausreichend Plätze für Frauen und Kinder, die Schutz suchen, eine Beratungshotline und hinreichende und vor allem gesunde Personalressourcen.

«Alle Stellen machen das Möglichste, um präventiv Schlimmeres zu verhindern. Es braucht jetzt alle Akteure des Opfer- und Kindesschutzes», sagt Fassbind von der Kesb Basel-Stadt. Wichtig sei auch, dass diese Akteure im Kampf gegen die häusliche Gewalt jetzt mehr denn je zusammenarbeiten und sich koordinieren. Zu diesem Zweck hat der Bund auf nationaler Ebene zusätzlich eine Taskforce eingerichtet.

Wichtig sei auch, dass diese Akteure im Kampf gegen die häusliche Gewalt jetzt mehr denn je zusammenarbeiten und sich koordinieren. Zu diesem Zweck hat der Bund auf nationaler Ebene zusätzlich eine Taskforce eingerichtet.

Auch für Zeugen von häuslicher Gewalt, gebe es Angebote, an die sie sich wenden könnten. Binda von der Beratungsstelle Frauen-Nottelefon in Winterthur sagt: «Wir beraten auch gern Personen, die sich nicht sicher sind, wie sie auf häusliche Gewalt reagieren sollen.»

Hilfe in der Nachbarschaft anbieten

Susanna Gadient vom Sozialamt Graubünden sagt, dass die Situation aktuell für alle Beteiligten eine Herausforderung sei. «Wir möchten Betroffenen Mut machen, sich auch in der aktuellen Situation Hilfe und Unterstützung zu suchen.»

Auch Dörig von der Kesb Dübendorf appelliert an Betroffene von häuslicher Gewalt, mit vertrauten Bezugspersonen über die eigene Befindlichkeit zu reden, nicht alleine zu bleiben mit den Sorgen und dadurch sich selber so gut wie möglich zu entlasten. «Ein wichtiges Gebot an alle Eltern und Bezugspersonen in diesen besonderen Zeiten: Hilfsangebote annehmen, auch wenn diese mit veränderten Rahmenbedingungen arbeiten.»

Nebst dem bestehenden Hilfsangebot sei es auch die Unterstützung unter den Menschen wichtig, um Opfern von häuslicher Gewalt beizustehen, sagt Fassbind von der Kesb Basel-Stadt. «Auch die Zivilgesellschaft leistet in dieser Zeit sehr viel. Aktionen wie Nachbarschaftshilfe und Hilfsangebote auf Facebook sind wichtig.»



Dennoch: Längst nicht alle hätten Zugriff auf die sozialen Medien. «Deshalb ist es zentral, Menschen in der Nachbarschaft direkt anzusprechen, sie anzurufen, ihnen Hilfe anzubieten. Solidarität ist gefragt. Auf allen Ebenen», sagt Fassbind.

Besonderes Augenmerk gelte den Kindern. Für diese ist es schwieriger, sich selbst Hilfe zu holen. Sie sind isoliert und fremdbestimmt, also abhängiger.

«In Basel leisten hier zum Beispiel die Schulen grossartige Arbeit: Sie sind mit den Kindern im Homeschooling in Kontakt, rufen diese an, fragen sie nach deren Befinden. Auch die Schulsozialarbeit ist involviert, indem bekannte Krisenfamilien proaktiv kontaktiert und bei Bedarf unterstützt werden.»

Stefan Armenti von der Kesb Solothurn sagt, dass die Zunahme an häuslicher Gewalt auch dadurch begegnet werden könne, indem den Familien geeignete Entlastungsmassnahmen zur Verfügung gestellt werden.

Dabei helfen können auch Menschen aus der Nachbarschaft, indem sie beispielsweise einen Nachmittag mit dem Kind einer belasteten Familie spielen und es beschäftigen, damit die Eltern entlastet werden.

Für Fassbind von der Kesb Basel ist trotz Wachsamkeit aller Beteiligten klar: Viele Krisen dürften, im Kindesschutz aber auch im Erwachsenenschutz, unbemerkt ablaufen.

«Die grosse Welle und einen generellen Anstieg im Kindes- und Erwachsenenschutz erwarten wir dann, wenn sich die Situation normalisiert hat und die Tragödien langsam zum Vorschein kommen.» Nicht nur jetzt, sondern auch dann gilt es, genügend Schutz und Unterstützung für alle Betroffenen zur Verfügung zu haben.

Serie zum Thema häusliche Gewalt

Häusliche Gewalt ist in der Schweiz weit verbreitet. 2018 wurden laut Schweizerischer Kriminalstatistik rund 18'500 Straftaten gezählt. 2019 stieg die Zahl um acht Prozent auf 19'500 Straftaten. Die Dunkelziffer ist hoch. In Zeiten des Coronavirus verschärft sich das Problem, weil man sein Haus nicht mehr verlassen sollte, die Schulen und Kindergärten geschlossen sind sowie Homeoffice zu intensiverem Zusammenleben führt. «Bluewin» beleuchtet das Thema häusliche Gewalt diese Woche in einer Serie. 

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