Interview zu COVID-19 Neurologe: «Intensivpatienten zeigen häufiger Zeichen von Verwirrtheit»

Von Runa Reinecke

29.4.2020

Das SARS-CoV-2-Virus kann auch im Gehirn Schaden anrichten. 
Das SARS-CoV-2-Virus kann auch im Gehirn Schaden anrichten. 
Bild: Getty Images

Hinweise mehren sich, dass SARS-CoV-2-Viren auch das Nervensystem schädigen können. Mit zum Teil schwerwiegenden Folgen, wie ein Spitalarzt im Interview mit «Bluewin» beschreibt.

Covid-19 ist eine Viruserkrankung, die in erster Linie die Lunge betrifft. Doch Spezialisten wie Dr. med. Sylvan J. Albert, Leitender Arzt der Neurologie des Kantonsspitals Graubünden, beobachten vermehrt Symptome bei schwer Erkrankten, die auch verschiedene Bereiche des Nervensystems beeinträchtigen.

Welche vorübergehenden, dauerhaften oder sogar lebensgefährlichen Schädigungen durch das SARS-CoV-2 entstehen können, hat der Mediziner in einem schriftlich geführten Interview erläutert.

Herr Albert, inwiefern hat sich Ihre Arbeit in der Neurologie am Kantonsspital Graubünden seit der Corona-Krise verändert?

Wir fokussieren uns in den letzten Wochen entsprechend den bundesrätlichen Anordnungen auf die Behandlung von dringlichen Erkrankungen und Notfällen.

Leider ist es aber auch so, dass Patientinnen und Patienten nun auch in Notfällen zurückhaltend ins Spital kommen, sodass wir beispielsweise weltweit einen Rückgang von zeitgerechten Hirnschlag-Behandlungen zu verzeichnen haben. Dies kann potenziell gravierende Folgeschäden für die Betroffenen nach sich ziehen.

Das genaue Ausmass wird man erst im Nachhinein beurteilen können. Im Kantonsspital Graubünden sind die Behandlungspfade für Covid-19 räumlich streng von denen des Normalbetriebs getrennt, sodass wir ab der kommenden Woche mit besonderen Schutzmassnahmen wieder zunehmend den regulären Betrieb hochfahren können.

Covid-19 kann auch mit neurologischen Symptomen einhergehen. Was beobachten Sie bei Ihren Patientinnen und Patienten?

Die schwer erkrankten Patientinnen und Patienten liegen viele Tage bis Wochen auf der Intensivstation. Während dieser Zeit bauen sie stark an Muskelkraft ab, manchmal ist die Muskulatur aber auch durch das periphere Nervensystem geschädigt. Den Betroffenen fehlt es an Kraft; sie haben Mühe, die Atemmuskulatur aufzubauen und zu steuern.

«Viele Erkenntnisse basieren nur auf Einzelfallbeschreibungen», betont Dr. med. Sylvan J. Albert vom Kantonsspital Graubünden.
«Viele Erkenntnisse basieren nur auf Einzelfallbeschreibungen», betont Dr. med. Sylvan J. Albert vom Kantonsspital Graubünden.
Bild: zVg

Zudem zeigen sie häufiger als andere Intensivstation-Patienten Zeichen einer Verwirrtheit. Man nennt diesen Zustand auch Delir. Inzwischen ist bekannt geworden, dass sich das Virus auch im Hirngewebe ausbreiten kann und in Einzelfällen auch im Nervenwasser (Liquor) nachgewiesen wurde. Vieles ist aber noch unbekannt und nicht systematisch erforscht, viele Erkenntnisse basieren nur auf Einzelfallbeschreibungen.

Bei etwa zwei Drittel aller von Covid-19-Betroffenen tritt eine meist vorübergehende Geruchs- beziehungsweise Geschmacksstörung auf. Worauf ist diese zurückzuführen?

SARS-CoV-2 befällt häufig den Riechnerv. Er gehört zu den Hirnnerven und steht direkt mit den vorderen Hirnstrukturen in Verbindung. Es kann bei einem Teil der Fälle auch dazu kommen, dass eine Hirngewebeentzündung (Encephalitis) dann die Hirnrindenstrukturen betrifft, die für die Geruchs- und Geschmackswahrnehmung wichtig sind.

Sind Geruchs- und Geschmacksstörungen auch typisch für andere Infektionserkrankungen?

Auch bei der Grippe (Influenza) und anderen Viruserkrankungen treten solche Störungen auf. In einer Studie konnten Hinweise gefunden werden, dass dies jedoch bei Covid-19 häufiger als bei der Grippe (Influenza) vorkommt.

Ein 24-jähriger Japaner erlitt im Verlauf einer Covid-19-Erkrankung einen epileptischen Anfall. Eine Untersuchung des Nervenwassers zeigte, dass SARS-CoV-2-Erreger bis ins Gehirn gelangt waren und dort eine Entzündung verursacht hatten. Auf welchen Wegen kann das Virus bis ins Gehirn vordringen?

Bezüglich der genauen Abläufe ist noch vieles unklar. Es wird angenommen, dass das Virus über den Geruchsnerv und/oder den Vagus-Nerv (ein Nerv des autonomen Nervensystems mit Verbindung vom Hirnstamm in die Lunge und den Brustraum) in das zentrale Nervensystem gelangen kann.

Im Hirngewebe selbst kann sich das krankmachende Virus offenbar auch direkt weiterverbreiten. Auch eine Ausbreitung über die Blutbahn in das Nervensystem könnte stattfinden.

Die Forschergruppe um Yan-Chao Li von der Jilin-Universität in China weist in einer im «Journal of Medical Neurology» veröffentlichten Arbeit darauf hin, dass es bei Covid-19 zu einem neurologisch bedingten Atemstillstand kommen kann. Hat man das so zuvor schon bei anderen Infektionserkrankungen beobachtet?

Ja, grundsätzlich kann eine Virusenzephalitis oder auch eine bakterielle Gehirnentzündung eine Hirnstammentzündung zur Folge haben. Bei Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus sind Encephalitis, epileptische Anfälle und Störungen der Neurokognition (Gedächtnis, Konzentrationsvermögen etc.) bekannt geworden. Das genaue Ausmass und die Häufigkeit eines Hirnstammbefalls können wir aber bei SARS-CoV-2 noch nicht genau abschätzen.



Ein möglicher Zusammenhang mit einer Störung der Atemregulation wird bei schweren Verläufen aber angenommen. Es ist vorstellbar, dass eine Beteiligung der Atemzentren im Hirnstamm zu gravierenden Folgen für die Atemfunktion führen kann.

Gibt es eine bestimmte Patientengruppe, die eher gefährdet ist, eine virusbedingte Gehirnentzündung (nicht nur durch SARS-CoV-2-Viren) zu erleiden, oder kann es grundsätzlich jeden treffen?

Eine Virusencephalitis ist ein wichtiger neurologischer Notfall. Relativ häufig und potenziell schwerwiegend ist beispielsweise die Herpes-Virus-Hirnentzündung (HSV-Encephalitis). Es kann grundsätzlich jeder an einer Virusencephalitis erkranken, aber Menschen mit einer Störung des Immunsystems durch Begleiterkrankungen sind häufiger oder schwerer betroffen.

Sogar von Schlaganfällen ist in Zusammenhang mit Covid-19 die Rede …

Auch hier gilt, dass noch vieles unerforscht ist. Es gibt Hinweise, dass SARS-CoV-2 sowohl die Funktion der inneren Schicht der Blutgefässe (Endothel-Funktion) als auch die Blutgerinnung (erhöhte Neigung zur Gerinnselbildung) negativ beeinflussen kann. Auch eine heftige Immunreaktion, der sogenannte Zytokinsturm, wird dabei als relevant angesehen. Schliesslich ist die Sauerstoffversorgung durch die Lungenerkrankung bereits eingeschränkt. Dies führt gesamthaft zu vermehrten Thrombosen, Hirnschlägen und Herzinfarkten.

In den medizinischen Fachjournalen The Lancet und NEJM wurde berichtet, dass sechs Covid-19-Patienten am Guillain-Barré-Syndrom (GBS) erkrankten, einem Leiden, das sich unter anderem durch Lähmungen bemerkbar machen kann. Mit welchen Erregern wird das GBS normalerweise in Verbindung gebracht?

Entzündungen des peripheren Nervensystems im Anschluss an einen schweren Infekt sehen wir bei einigen Infektionskrankheiten wie Atemwegserkrankungen oder Durchfallerkrankungen. Nicht immer kann der Erreger genau bestimmt werden.



Man weiss seit längerer Zeit, dass die Abwehr von bestimmten Antigenen von Krankheitserregern zu Antikörperbildung führen kann: Es kommt zum Angriff körpereigener Strukturen wie dem Myelin, einer Art Isolationsschicht, von der die Nerven umgeben sind.

Das Guillain-Barré-Syndrom tritt üblicherweise einige Tage bis wenige Wochen nach dem auslösenden Infekt auf. Besonders schwere GBS-Verläufe sehen wir nach Magen-Darm-Infekten mit dem Erreger Campylobacter jejuni. In jüngerer Zeit sind häufige GBS-Komplikationen auch beim ZIKA-Virus bekannt geworden, das besonders auf dem amerikanischen Kontinent verbreitet ist.

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