Kolumne Der Berner in Berlin: Extreme Heimatgefühle in der Adventszeit

Von Michael Angele

10.12.2019

Man kann ja nur Sehnsucht danach haben: Creux du Van, Schweizer Jura. 
Man kann ja nur Sehnsucht danach haben: Creux du Van, Schweizer Jura. 
Bild: Getty Images

Mit mir zusammen sind knapp 6'000 Schweizer in Berlin gemeldet – zur Adventszeit werden bei mir Heimatgefühle aktiviert wie sonst im gesamten Jahr nicht. Ich erkläre Ihnen, warum.

Das Ausland ist der viertgrösste Kanton der Schweiz; rund 750'000 Personen mit Schweizer Pass leben nicht in der Schweiz.

Die meisten von ihnen wohnen in Frankreich, dann kommt Deutschland, hier sind knapp 6'000 Schweizer in Berlin gemeldet, ich bin einer von ihnen.

Vermutlich sind längst nicht mehr bei uns allen Heimatgefühle vorhanden, aber wenn sie es sind, dann werden sie zur Adventszeit aktiviert. Da kannst du nichts dagegen tun.

Bei mir fing es schon vor rund zwei Wochen an. Plötzlich fiel mir am Berliner Ostbahnhof die Anzeige auf, die den Zug ankündigte, der einmal am Tag von Berlin bis Interlaken Ost fährt. Der Zug ist mir im Rest des Jahres relativ egal. Reisen in die Schweiz sehe ich unsentimental. Mit easyJet von Schöneberg nach Basel. Flugzeit 1,5 Stunden. Dann Bus. Dann Bahn.

Jura!

Aber jetzt! Zwar mag ich den Jura viel lieber als die Alpen, aber nach Délémont fährt nun einmal kein Direktzug von Berlin. Darum also: Interlaken Ost. Wichtig auch, dass es Ost ist. Ost ist gefühlt immer weiter als West.

Berlin, Ostbahnhof.
Berlin, Ostbahnhof.
Bild: Getty Images

Berner Oberland, so fern und doch so nah. Erinnerungen werden wach an die Zeit vor dem Mauerfall, als man den Nachtzug nahm und in eine andere Welt fuhr. Der Chemiegeruch, wenn der Zug in Bitterfeld für Stunden stand, das Unbehagen vor den humorlosen Grenzsoldaten, und wenn man Glück hatte, ein Abteil voller Menschen, die für einen am Ende der Reise andere waren als zu ihrem Beginn.

Interlaken Ost war aber nur der Anfang meiner Heimatgefühle. Es folge die Bemerkung meines Sohnes, dass «ich ja eben Schweizerdeutsch gesprochen» hätte. War mir gar nicht aufgefallen. Hatte ich wie früher «parkieren» statt parken gesagt?

Vergangenen Mittwoch landete dann die «Schweizer Revue» im digitalen Postfach. Als sie noch in einem Umschlag im Briefkasten lag, war das ein Ereignis. Eine Botschaft von daheim. Seit sie nur noch online kommt, bleibt sie meist ungelesen.

Jetzt nicht.

Ein Artikel handelt von AKW Mühleberg. Ich bin in rund zehn Kilometer Luftlinie von Mühleberg gross geworden, ist also unmittelbare Heimat, und zugleich deren absolute Bedrohung. Das steigert die Gefühle. Ich lese, dass das Mühleberg am 20. Dezember für immer abgeschaltet wird. Eine gute Sache. Trotzdem werde ich wehmütig. Etwas ist nun vorbei.

Monopoly-Abend, Schweizer Ausgabe

Wie geht es weiter? Nicht ausgeschlossen scheint mir, dass ich noch diese Woche mit der S-Bahn nach Berlin-Wilmersdorf fahre und dort den Laden «Chuchichäschtli» betrete. An sich ist mir schon der Name zuwider. Spielerisch mit dem Klischee umgehen, hahaha, nicht mit mir. Aber es gibt in diesem Laden Kägi Fret, Wernli Jura Waffeln, und sogar Chicco D’Oro zu kaufen. Kann sein, dass ich schwach werde.

Ganz sicher aber werde ich einen Monopoly-Abend veranstalten. Natürlich mit der Schweizer Ausgabe. Ich weiss jetzt gar nicht aus welchem Jahr, aber uralt.

Am günstigsten ist der Hotelbau in Chur Kornplatz, 1'200 Franken. Zürich Paradeplatz – wer wüsste es nicht? –, ist mit 8'000 Franken der teuerste.

Dazwischen das graue Mittelfeld: Winterhur Bahnhofplatz, La Chaux-de-Fonds Rue Leopold St Robert, Biel Nidaugasse. Und natürlich immer wieder die Frage, ob das Wasserwerk sich zu kaufen lohnt. Die Meinungen gehen auseinander.

Dass vor dem Spiel ein Fondue (moitié-moitié) gegessen wird, brauche ich nicht extra zu erwähnen.

Der Berner Michael Angele liefert hier regelmässig eine Aussenansicht aus Berlin – Schweizerisches und Deutsches betreffend.

Angele, 55, bildet zusammen mit Jakob Augstein die Chefredaktion der Wochenzeitung «Der Freitag». Er ist im Seeland aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Berlin. Berndeutsch kann Angele aber immer noch perfekt. Als Buchautor erschienen von ihm zuletzt «Der letzte Zeitungsleser» und «Schirrmacher. Ein Porträt».

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